„Ich wäre vermutlich tot. Ich bin laut Aussagen von Ärzten schizophren.“ Ein Brief

Sehr geehrter Herr Peglau,

mit einiger Bestürzung habe ich in der ICH 3/ 95 Ihre Rezension gelesen: ,,Medizin im Nationalsozialismus“.

Ihr Erschrecken darüber, daß Sie Nazi-Ideologen ohne weiteres eine ganze Strecke folgen können. Haben Sie das vorher nicht gewußt, haben Sie angenommen, man könne schon am ersten und an jedem Satz erkennen, ob Leute „Verbrecher“ sind? Haben Sie geglaubt, die Menschen, die den Nazis folgten, seien einfach nur dumm gewesen?

Ich habe auf einer Reise nach Hamburg eine Werbe-Broschüre der Scientologen bekommen. Nur mal so als Test einen Ausschnitt:

„Sind Sie gegen

– Nazis?

– Menschenrechtsverletzungen durch die Psychiatrie?

– Ausländerhaß?

– Drogen?

– Verfolgung von Minderheiten?

Sind Sie für

– Glaubensfreiheit?

– Gewaltfreiheit?

– eine Welt ohne Krieg?“

Beantworten Sie alle Fragen mit ,,ja“? Sie haben den Test trotzdem verloren, ich glaub nämlich dennoch nicht, daß Sie Scientologe sind. Weil ich annehme zu wissen, daß Sie nicht daran glauben, daß es einfache Lösungen für alle Probleme der Welt gibt. Es gibt keine und deshalb können auch die Scientologen keine haben, wie sie den Leuten glauben machen wollen.

Einfache Lösungen gab es auch 1933 nicht. Die von den Nazis vorgemachten waren kein. Heute sind wir um diese Erfahrung reicher. Aber hätten wir damals gelebt?

Ich wäre vermutlich tot. Ich bin laut Aussage von Ärzten schizophren. Und ich möchte nicht, daß „meine Fähigkeit, schizophren zu sein“, mit Medikamenten betäubt wird, sondern ich damit leben, leben lernen.

Die meisten Ärzte, die bei den Nazis mitgemacht haben, blieben nach dem Krieg in Deutschland und arbeiteten weiter, nahezu unbehelligt und von der ,,Entnazifizierung“ verschont. Und gaben ihr ,,Wissen“ an die nachfolgende Ärztegeneration weiter. Und ihre Einstellung zu diesen Krankheiten.

1930 hatte es schon ein Gesetz gegeben, wonach ,,aus wirtschaftlichen Erwägungen“ psychisch Kranke ,,nur noch menschlich behandelt und bewahrt“ werden sollten. Also keine medizinische/ therapeutische Behandlung mehr.

Und heute? Aus den ,,Psychotherapie-Richtlinien“ der Bundesrepublik geht hervor daß ,,sowohl unter therapeutischen als auch unter wirtschaftlichen Aspekten“ Behandlungsumfang und – frequenz festzulegen sind.

Die Behandlung ist also begrenzt. Auch für eine stützende und begleitende Therapie für Psychotiker.

Haben Sie schon mal gehört, daß jemand den Verlauf einer schizophrenen Erkrankung vorhersagen kann? Haben Sie schon mal gehört, daß man Schizophrenie in einer festgelegten Stundenzahl sicher ausheilen kann? Weil das nicht geht, deswegen keine weitere Therapie? Werden denn Nierenkranke durch Dialyse sicher geheilt? Oder Herzkranke durch den Herzschrittmacher?

Geht es wirklich um ,,wirtschaftliche Aspekte“? Durch die Psychotherapie habe ich seit 1988 auf´s Krankenhaus verzichten können. Die Kosten für einen Monat Psychotherapie entsprechen ungefähr einem Tag Krankenhausaufenthalt!

Auch meine Medikamente konnte ich so reduzieren – das schont meine Nieren, Herz, Leber usw. – deren Behandlung auch Kosten verursachen würde.

Da ich um diese Therapie kämpfe, habe ich mir das ,,Gesetz zur Hilfe für psychisch Kranke“ besorgt. Der Abschnitt über Hilfe ist sehr allgemein und sehr kurz. Und dann kommt ,,Unterbringung“, ,,Maßregelvollzug“ , „Kosten“ und solche Rechte wie: persönliche Kleidung tragen dürfen, Briefe schreiben dürfen, telefonieren dürfen. Alles mit Einschränkungen.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß eine Bestimmung nachfolgt, daß man Anstaltskleidung käuflich erwerben kann. Selbstverständlich aus ,,wirtschaftlichen Erwägungen“, weil man die Kranken davor schützen will, der Sozialhilfe zur Last zu fallen, mutwillig, durch Kauf von Kleidung im Kaufhaus.

Es gibt die Pflicht der Kranken, Untersuchungen und Behandlungen erdulden zu müssen, notfalls mit Gewalt. Ich habe aber kein Recht auf ambulante Psychotherapie und medizinische Behandlung gefunden. Auch nicht die Pflicht, über Medikamente und deren Wirkungen und Nebenwirkungen aufgeklärt zu werden.

Zu meiner Krankenhauszeit kamen solche Gespräche vor:

,,Was sind das für Tabletten?“

„Das geht Sie nichts an, hat der Arzt so angeordnet.“

,,Gestern hatte ich eine blaue, zwei gelbe, eine rote und zwei weiße – und heute eine grüne …“

,,Zeigen Sie mal her, die grüne ist falsch, geben Sie her, hier haben Sie Ihre blaue.“

Eine Aufklärung über Medikamente erscheint wohl sinnlos, da das die Patienten ja eh nicht begreifen und sie damit überfordert sind. Aber wie kommen die Ärzte dann bei noch viel kränkeren Patienten, die deshalb mit Elektroschocks behandelt werden, zu den rechtsgültigen Unterschriften unter den Einverständniserklärungen – wenn diese Patienten ja eh keine Aufklärung über das Für und Wider begreifen können?

Man kann auch nachhelfen, indem man es Kranken und Schwachen so gehen läßt, daß sie selbst einsehen, daß das Leben nicht mehr lebenswert ist.Ein Satz aus dem Krankenhaus, als ich sagte, ich kann mir nicht vorstellen, daß für Elektroschocks jemand freiwillig unterschreibt. Antwort: ,,Wenn es Ihnen schlecht genug geht, werden Sie schon unterschreiben.“

Ich habe jetzt viel geschrieben, dabei ist es nur ein Teil dessen, was mir durch den Kopf geht. Ein Zeichen dafür, daß ich wieder mal in einer ,,Manie“ bin. Wenn Sie meinen Gedankengängen aber folgen können, ist das kein Zeichen dafür, daß Sie schizophren sind.

Mit freundlichen Grüßen

E.L.