Die Suche nach einem Schlüsselerlebnis. Tagebuchaufzeichnungen

von Mario A.

02.12. 93

In letzter Zeit habe ich öfter an meinen Opa gedacht, vor zwei Tagen wäre er 73 Jahre geworden – wäre er, wenn er nicht vor 12 Jahren plötzlich gestorben wäre. Er war der einzige Opa, den ich hatte. Und er hat mich geliebt, und ich habe ihn geliebt. Wenn ich das jetzt so schreibe, kommen mir fast die Tränen. Denn ich glaube, er hat mir die Liebe und Aufmerksamkeit entgegengebracht, die ich bei meinem Vater damals schon vermißt habe. Eigentlich ist das eine eigenartige Sache, weil ich der Meinung bin, daß mein Opa und mein Vater ähnliche Probleme miteinander hatten, wie die unausgesprochenen Spannungen und Berührungsängste zwischen mir und meinem Vater. Während aber mein Vater und mein Opa wenigstens noch miteinander redeten, auch wenn ihre Unterhaltung nicht selten in einem unsinnigen Streit endete, der darin bestand, daß einer (meist mein Opa) darauf pochte, unbedingt recht zu haben – selbst wenn allen bereits die Falschheit seiner Ansicht klipp und klar war. Es scheint immer darauf hinausgelaufen zu sein, sich mit aller Macht doch durchzusetzen, bloß kein Zugeständnis zu machen. Genau dasselbe beobachte ich heute an meinem Vater. Ich bin nun wirklich nicht oft zu Hause, aber fast jedesmal werde ich Zeuge einer Auseinandersetzung mit meiner Mutter, meiner Schwester, meinem Bruder oder mir oder auch mit uns allen, wo er einfach darauf besteht, den richtigen Standpunkt zu vertreten, auch wenn alle seine Argumente bereits mehr als widerlegt sind. Bei diesen Streitigkeiten geht es außerdem meist um Nebensächlichkeiten, um Belanglosigkeiten, und die Lautstärke, die solche Gespräche schnell annehmen, machen sie für alle Unbeteiligten und für viele Beteiligte zur Zumutung. Aber in dieser Hinsicht ging es zwischen meinem Vater und meinem Opa noch hitziger zu, und die Streitanlässe waren oft genauso belanglos.

03.12. 93

Mein Opa ist also vor mehr als zehn Jahren im September plötzlich gestorben. Die Beerdigung war für mich das Traurigste, was ich bis dahin erlebt hatte. Vielleicht stellt es sich mir auch deshalb so dar, weil es das letzte Mal war – das glaube ich jedenfalls -, wo ich aus tiefstem Gefühl heraus geweint habe. Als ich noch am offenen Grab stand und unter mir in der Grube den Sarg sah, mußte ich mich zusammenreißen, nicht hinein zu springen. Ich wußte, daß sich das nicht gehört, aber ich sage mir heute, daß ich es entgegen allen Anstandsregeln hätte tun sollen. Vor mir selbst hätte ich es verantworten können, was sollte also diese Selbstdisziplinierung aufgrund gesellschaftlicher Normen und Gepflogenheiten. Wie ich mich dabei fühlte und auch heute manchmal noch fühle, danach fragt niemand. Ich bin zu sehr ein Verstandes-Mensch, ich kann nur schwer Gefühle zeigen und ausleben. Und in dieser Hinsicht gleiche ich sehr meinem Vater, vielleicht war sein Vater auch so, obwohl ich persönlich meinen Vater anders in Erinnerung habe – vielleicht hatten wir auch nur einen anderen, besseren „Draht“ zueinander.

Eigentlich müßte ich mal mit meinem Vater, mit meinen Eltern darüber reden. Aber das meinem Vater darzulegen oder einfach nur zum Lesen zu geben, um danach darüber zu sprechen, würde mich eine ungeheure Überwindung kosten. Ich kann mir vorstellen, mit allen Menschen darüber zu reden – aber mit meinem Vater kann ich das zur Zeit nicht! Bloß – was gibt es dann für Alternativen? Den Kontakt mit dem Elternhaus vollständig abzubrechen, würde mir letztlich das Herz brechen, das würde ich auf Dauer nicht fertigbringen. Außerdem würde es für mich nur dann halbwegs erfolgreich sein, wenn die räumliche Entfernung zwischen mir und dem Elternhaus groß genug wäre – also unter einigen tausend Kilometern dürfte wohl nichts zu machen sein. Doch damit hätte ich mich nicht nur vom Elternhaus getrennt. Sondern auch von den Verhältnissen in Deutschland, also von den Verhältnissen, die bisher meine gesellschaftliche Umwelt darstellten (von wenigen kurzen Unterbrechungen abgesehen), mehr oder weniger abgenabelt. Vollständig würde es sowieso nicht gehen, weil ich ja meinen Kopf nicht hier lassen könnte, meine Erinnerung demzufolge immer und überall mit mir herumschleppe – ob im Bewußtsein oder im Unterbewußtsein. Also würde jede Flucht nur eine vermeintliche Flucht vor den Problemen, die mich hier bedrücken. Als einzig gangbare Alternative bliebe dann nur noch der Selbstmord. Aber in dieser „Sackgasse“ war ich gestern schon fast, und im Moment will ich mich damit nicht tiefgründiger beschäftigen.

11.12. 93

Was für einen Bruch habe ich in meinem Lebenslauf? Wenn ich wieder mal darüber nachdenke, war es kein abrupter Bruch. Vielmehr zog er sich über viele Jahre ging, mindestens über ein Jahrzehnt, wie ich die Sache heute einschätze. Der Zeitraum, den ich im Auge habe, reicht von 1978 bis 1988, wobei 1988 keinen Endpunkt darstellt. Eher kann es als (ein) Höhepunkt in meiner Entwicklung angesehen werden, als ich im Januar/ Februar 1988 das Chemiestudium abbrach. Und 1978 ist sicherlich nicht der Beginn dieser Entwicklung, aber im September dieses Jahres kam ich an die EOS, womit sich eine Erinnerung verbindet, die mein Leben/ Denken veränderte – eine ähnliche Begebenheit davor ist mir momentan nicht bewußt bzw. noch nicht bewußt.

12.12. 93

Im August 78 flog Sigmund Jähn als erster Fliegerkosmonaut der DDR mit einen Sojus-Raumschiff in den Kosmos. Das hatte ich beiläufig im Radio gehört und mir nichts besonderes dabei gedacht. Ich war als 14jähriger Junge politisch relativ unschuldig, neigte überhaupt nicht dazu, irgendwelche Ereignisse selbständig zu interpretieren. Ich hatte es also gehört, und damit war die Sache für mich erledigt. Ich hätte sie sicherlich auch für lange Zeit oder für immer vergessen, wäre nicht der erste Schultag in der EOS gewesen. Wir saßen an dem Tag alle im Klassenzimmer. Es war ein schöner Septembertag – sicherlich der 1. September, an dem in der DDR gewöhnlich das neue Schuljahr begann. Das erste „Unterrichts“-Gespräch, das in der neuen Klasse stattfand, drehte sich darum, was im Sommer an wichtigen (politischen) Ereignissen gewesen war. Ich fühlte mich durch diese Frage überrumpelt/ überfordert, denn ich hätte nichts erzählen können, außer daß ich mit meinen Eltern und Geschwistern im Sommer auf dem Zeltplatz war, geangelt und gebadet hatte usw. Da saß ich nun in der Klasse auf der Bank vor dem Lehrertisch und hoffte, bloß nicht gefragt zu werden. Gefragt wurde ich auch nicht, denn andere SchülerInnen meldeten sich und antworteten. In diesen Antworten nahm der Weltraumflug von Sigmund Jähn einen bedeutenden Platz ein, und mir fiel ein, davon mal etwas gehört zu haben, hätte dazu aber nie eine befriedigende Aussage machen können, ich wußte davon einfach zu wenig.

Bei den Ausführungen tat sich eine Schülerin – Andrea J., die spätere FDJ-Sekretärin der Klasse – besonders hervor. Mich verblüffte, wieviel sie zu dem Ereignis sagen konnte und vor allem, daß sie es politische einzuordnen wußte – mit den üblichen Verweisen auf die Politik der SED, der KPdSU und der Richtigkeit und den Erfolgen dieser Politik. Damals erstaunte mich das alles, und ich fühlte mich ganz klein und unbedeutend und auch ein bißchen dumm, denn ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wieviel die einzelnen SchülerInnen drauf hatten. Wenn sie allerdings zum Teil schon bei nichtschulischen Angelegenheiten so loslegten, mußte ich mich in den Schulfächern wohl auf einiges gefaßt machen.

Außerdem bekam ich in dieser Unterrichtsstunde eine Ahnung davon, daß hier (in der DDR) noch jemand am Werk ist, der viel zu sagen, zu bestimmen und zu entscheiden hat – ich meine die SED. Nicht, daß ich nichts zu der Partei hätte sagen können, aber ihre Rolle in der Gesellschaft war mir im vollen Umfang nicht bewußt. Ich glaube, sensibilisiert für einen anderen Blick auf die Geschehnisse um mich herum, ohne es jetzt gleich die kritischen Betrachtung zu nennen, wurde ich an jenem ersten Schultag in der EOS. In dem Moment verlor ich gleichzeitig etwas meiner kindlichen Unschuld/ Unbedarftheit. Davor lebte ich in meiner eigenen Welt, wo im großen und ganzen alles in Ordnung war – das habe ich auch meinen Eltern zu verdanken, ich weiß noch nicht, inwieweit es nachteilig/ schlecht für mich war.

13.12. 93

Was in der neuen Klasse in meinem Beisein passierte, erzeugte in mir nicht nur Achtung und Ehrfurcht, sondern gleichzeitig eine Art schlechtes Gewissen, weil ich von dem, was einige SchülerInnen in der Klasse erzählten, nicht die geringste Ahnung hatte. Gleichzeitig merkte ich aber deutlich, daß es von großer Wichtigkeit sein mußte, denn diejenigen, die sich darüber austauschten, taten es mit einer Einhelligkeit und Einstimmigkeit der Meinungen, die für mich verblüffend war. Die Konsequenzen für mich waren schnell gezogen. In den nächsten Tagen und Wochen verzog ich mich nach der Schule und lernte eifrig – und zwar alles das, was uns in der Schule vermittelt wurde. In den naturwissenschaftlichen Fächern knüpfte ich am leichtesten an meine alten Leistungen an, obwohl ich in einem meiner Paradefächer, in der Mathematik, doch einige Zeit nichts so recht mit dem neuen Stoff anzufangen wußte. Aber das kann auch mit der (inneren) Umstellung auf die neue Lehrerin zusammengehangen haben.

In der fünften Klasse hatte ich ähnliche Probleme, als ich in dem Fach Mathematik sogar bis auf die Note 3 abrutschte. Der Mathematiklehrer, den wir in dieser Klasse hatten – zum Glück nur für das eine Jahr, war irgendwie unfähig. Und außerdem konnte ich ihn nicht leiden. Daß wir ihn mehr oder weniger alle ablehnten und überhaupt gegen jeden Lehrer und jede Lehrerin etwas hatten, hing damit zusammen, daß wir, die Unterstufe endlich hinter uns gelassen, immer noch die Unterstufenlehrerin als Klassenlehrerin hatten. Diese Klassenlehrerin -Frau H.- stand bei uns nicht mehr hoch im Kurs. Es stellte sich die Frage, ob sie das in unseren Augen jemals war. Sie war dick und häßlich, autoritär, was wir manchmal schmerzhaft zu spüren bekamen. Doch da war sie nicht die einzige und nicht die erste, im Kindergarten mußte ich solche Personen ebenfalls schon kennenlernen – ich denke nur an Frau H. und Frau R…, wenn unsere Erzieherin – Frau S.- vertreten werden mußte, habe ich mir immer gewünscht, daß ich nicht ihren Gruppen zugeteilt werde, leider hat es nicht immer geklappt.

22.12. 93

Ob Andrea J. wirklich FDJ-Sekretärin wurde , weiß ich nicht mehr so genau. Denn nach einem Jahr zog sie mit ihren Eltern nach Cottbus, und es kann sein, daß sie es im September schon wußte und deshalb „nur“ den Posten der Stellvertreterin bekam. Ich glaube, durch ihren Weggang blieb der Klasse insgesamt viel erspart. Es gab niemanden in der Klasse, der/ die so offensichtlich kommunistische Überzeugung so sehr überzeugt nach außen präsentierte – sie war ein Prototyp der kommunistisch erzogenen und danach auch bewußt handelnden Persönlichkeit. Sie ging, also wurde in der Klasse ein Platz frei. Dafür kam in der 10. Klasse eine andere Schülerin zu uns. Sie war mit ihren Eltern nach Lübbenau gezogen – niemand kannte sie! Im neuen Schuljahr galt es auch, den freigewordenen Platz im FDJ-Gruppenrat zu besetzen. Daß die „alten“ Mitglieder wiedergewählt werden sollten, stand im Prinzip fest, denn eigentlich war niemand scharf auf eine Gruppenratsfunktion, auf einen solchen Posten. Es blieb einzig und allein die Frage nach dem/ der neuen StellvertreterIn zu entscheiden. Doch diese sollte sich als problematisch erweisen. Das traf aber nicht auf die ganze Klasse zu, sondern lediglich ich war es, der gegen den Vorschlag der Klassenlehrerin, dem sich alle anderen mehr oder weniger unterordneten, opponierte. Ihr Vorschlag war, die neue Schülerin in den Gruppenrat zu wählen. In der Diskussion über die KandidatInnenaufstellung konnte ich meine Vorbehalte/Argumente gegen diese Kandidatin gut vorbringen, sogar einige MitschülerInnen davon überzeugen, jedenfalls so, daß ich ihrer verbalen Unterstützung sicher sein konnte. Es kamen vor allem keine mich umstimmenden Gegenargumente. Mein Hauptargument bestand darin, daß die Kandidatin für alle eine „Unbekannte“ ist. Wogegen sich mein Protest richtete, das war die undemokratische und unseriöse Aufstellung der neuen Kandidatin. Die ganze Gesellschaft als undemokratisch zu bezeichnen, zu dieser Einsicht/ Erkenntnis war ich damals noch nicht gekommen. Schließlich wurde in der Klasse gewählt, und ein letztes Mal die Frage nach Einwänden gegen die KandidatInnenlist gestellt, woraufhin ich mich sofort meldete. Übrigens war ich nach wie vor der einzige wirkliche Gegner dieser Liste. Die folgende Diskussion führte wieder zu keinem mich befriedigenden Ergebnis, es wurde nach dieser „unsinnigen“ Verzögerung mit einer Gegenstimme gewählt. Ich stimmte also konsequent gegen die gesamte Klassenvertretung, war aber in meiner Meinung nicht sokonsequent, auf direkte Anfragen der GO-Leitung der FDJ (Herr P.) ebenfalls mit „Nein“ zu antworten – die Frage war nämlich so gestellt, ob ich etwas gegen den gesamten Gruppenrat hätte.

Heute kann ich mir diesen „Rückzieher“(noch) verzeihen. Was eigentlich wichtiger ist, mich wahrscheinlich mehr prägte und mir später öfters passiert ist, war der Umstand, daß die Leute um mich herum mein Anliegen/Problem verstanden, doch wenn es darauf ankam, stand ich allein da. Dabei will ich es noch nicht mal in Anspruch nehmen, mir die Angelegenheit besonders durchdacht zu haben – ich handelte aus dem Gefühl heraus, nie aus einer Opposition gegen das Bestehende.

23.12. 93

Ich bleibe gleich in der 11. Klasse. Im Frühjahr 1981wurde ich das erste Mal für das Militär gemustert. Zu der Musterung fuhr ich, ohne mir vorher großartige Gedanken darüber gemacht zu haben. Ich war gewillt, drei Jahre zur Armee zu gehen. Ich hatte eine idealisierte Vorstellung von der NVA, wie sie uns in der Schule vermittelt wurde. Im Elternhaus usw. hörte ich ebenfalls nichts Gegenteiliges. Warum niemand ernsthaft versuchte, mich zu „warnen“/ aufzuklären, ist mir rätselhaft. Bei der ersten Musterung passierte aber etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich wurde für ein Jahr zurückgestellt, sollte mich also im nächsten Jahr noch einmal der Musterungskommision stellen. Begründet wurde die Rückstellung damit, daß ich zu leicht sei – ich wog damals 49 kg. Nun hatte ich also ein Jahr Zeit, mir die ganze Sache durch den Kopf gehen zu lassen, und tat es auch erstmalig mit einem anderen Blickwinkel auf das Militär. Ich freundete mich durchaus mit dem Gedanken an, gar nicht dorthin zu gehen. Verweigern wollte ich den Dienst nicht, das gab es für mich nicht (z. B. hörte ich von Bausoldaten – der DDR-Variante des „zivilen“ Ersatzdienstes – erst, als ich schon bei der Asche war). Ich war darauf aus, ausgemustert zu werden. Deshalb erschien ich zum nächsten Musterungstermin nicht ganz unvorbereitet. Ich war entgegen aller Erwartungen in dem einen Jahr noch leichter geworden, ich hatte mich auf 47 kg „heruntergehungert“. Außerdem gab ich bei der Musterung gelegentliche Rückenbeschwerden an, was mir eine Überweisung zum Orthopäden einbrachte. Simuliert waren diese Beschwerden nicht. Es half aber alles nichts, ich wurde für tauglich erklärt. Für diesen Fall war ich allerdings nicht vorbereitet, denn eigentlich hätte ich dann sagen müssen, daß ich lediglich bereit bin, den Grundwehrdienst zu leisten. Genau das tat ich eigenartigerweise nicht. Ich bekräftigte meine Bereitschaft, als Unteroffizier – drei Jahre – zu dienen. Ich hatte sogar Vorstellungen über meine Verwendung. Sie sollte etwas mit Chemie zu tun haben, denn ich hatte bereits einen Chemiestudienplatz an der Humboldt-Uni und versprach mir von der Armee, bezüglich der Chemie ein bißchen dazuzulernen. Darin wurde ich auch nicht enttäuscht, ich wurde als Laborant für den Treib- und Schmierstoffdienst bei den Luftstreitkräften ausgebildet.

Über diese „fundamentale Fehlentscheidung“ kann ich aus heutiger Sicht nur mit dem Kopf schütteln. Ich bereue es nicht ganz, drei Jahre bei der NVA gewesen zu sein. Diese Zeit hat mir nicht unwesentlich die Augen geöffnet.

10.01. 94

Nach der längeren Pause fällt es mir ein bißchen schwer, wieder einen Anknüpfungspunkt zu finden. Was mir zur Zeit durch den Kopf geht, sind Gedanken zum Erwachsensein. Irgendwie spüre ich heute noch, daß ich vor Erwachsenen (Personen, die offensichtlich älter sind als ich und anscheinend etwas zu sagen, zu bestimmen haben) ziemlich viel, zu viel Respekt habe (besonders belastend empfinde ich die Bürokratie, Bürokratenärsche), obwohl ich eigentlich selbst ein Erwachsener bin. Als Kind waren Erwachsene für mich über mir stehende Autoritätspersonen, die Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen usw. waren unantastbar. Vor allem hätte ich sie mir nie als Kinder und Jugendliche vorstellen können. Sie taten auch immer so souverän, was ich von mir heute nicht sagen kann. Vielleicht sollte ich einmal Kinder fragen, wie ich auf sie als Erwachsener wirke. Ich hoffe jedenfalls, daß ich kein typischer Erwachsener bin, wie ich sie als Kind oft um mich, über mir hatte. Und wie wirke ich auf andere Erwachsene, auf Erwachsene, die ich kenne, die ich gut kenne und die vielen, vielen anderen? Jedenfalls habe ich echt Probleme, andere Menschen spontan kennenzulernen. Wenn mir von der anderen Seite kein Signal gegeben wird, mache ich nach meiner Einschätzung kaum den ersten Schritt. Mit den Signalen ist es auch so eine Sache, vielleicht erkenne ich sie oft nicht. Um es anders zu sagen, ich bin schüchtern/ zurückhaltend/ ängstlich/ übervorsichtig.

Interessant wird es dann, wenn ich erst einmal Vertrauen zu anderen Menschen gefaßt habe. Dann verliere ich plötzlich die Schüchternheit, kann ausgiebig erzählen, auch ohne konkrete Anfrage und sogar bis zur Selbstvergessenheit, werde locker/ ungehemmt im Umgang miteinander. Ich nehme an, daß ich als Kleinkind das von seiten der Erwachsenen vermißt habe oder sogar einmal sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben muß. Denn ich kann mich unter anderem daran erinnern, daß ich zum Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre Onkel und Tante in Freileben mit „Sie“ ansprach und nicht gleich davon lassen konnte, als sie mir sagten, daß wir verwandt sind und die förmliche Anrede entfällt. Irgendwas muß zu dieser Zeit vorgefallen sein, was diesen Abstand/ Respekt bewirkt hat, denn die beiden waren mir nicht unbekannt. Unsere Familie fuhrt öfters nach Freileben, unsere Oma wohnte dort. Ich will die Tante und den Onkel nicht unmittelbar mit dem „Ereignis“, das irgendwo in meinem Unterbewußtsein herumspukt, in Verbindung bringen. Ich habe nicht anderes als eine Ahnung, daß vor meiner Einschulung, also von 1963 bis 1970, etwas passierte, daß mich mindestens ein bißchen menschenscheu machte. War es ein großes Erlebnis, waren es mehrere Erlebnisse? Ich weiß es nicht mehr. Eine Möglichkeit, darüber etwas zu erfahren, ist, die Eltern zu befragen. Doch dazu muß ich nach wie vor meine Scheu/ Angst vor diesem Schritt überwinden, obwohl ich, wenn ich es jetzt auf der Stelle machen könnte, sicherlich machen würde. Der andere Weg ist die eigene Erinnerung an die ersten sieben Jahre meines Lebens. Aber das wird nicht wenige Stunden in Anspruch nehmen, wenn ich es gleichzeitig aufschreibe – und das will ich ja.

12.01. 94

Der gestrige Tag/ Morgen war ein gewisser Durchbruch. Als ich um sechs wach war, konnte ich mich nicht sofort entschließen, aufzustehen. Was brachte mir das intensive Nachdenken (immerhin von sechs bis ungefähr neun Uhr)? Mir fielen wieder viele Sachen meiner frühesten Kindheit ein, die ich jetzt nicht alle niederschreiben möchte. Bei der Suche nach einem Schlüsselerlebnis gingen meine Gedanken aber immer wieder nach Doberlug-Kirchhain, wo meine Oma, mein Opa und mein jüngster Onkel, Andreas, wohnten. In dem Zustand des Nachdenkens, wohl zwischen Wachsein und Dahindämmern – obwohl ich betonen möchte, daß ich der Meinung bin, daß ich nicht geträumt habe -, schoß mir ein Bild durch den Kopf, daß danach – nach dem Bruchteil einer Sekunde – auch sofort wieder weg war: Ich sah mich, im Sportwagen sitzend, und um mich herum meine Eltern und meinen Onkel Andreas, der jüngste Bruder meines Vaters (16 Jahre jünger als er!).

So standen wir nun in meinem Gedankenblitz wie eine kleine Familie beisammen – meine Eltern, mein Onkel und ich. Und eigentlich waren wir das ja auch. Aber einer wußte, daß er doch nicht ganz dazugehört – mein Onkel. Er wollte aber bestimmt so dazugehören wie ich und fühlte sich in dem Kreis auch sehr wohl, denn von seinen Eltern erfuhr er sicherlich nicht so viel Liebe, Zuwendung und Geborgenheit wie von meinen Eltern bzw. seinem Bruder und seiner Schwägerin (meine Mutter ist 15 Jahre älter als er). Ich habe auch die Vermutung, daß er ein „Alibikind“ ist, daß nach außen zeigen sollte, daß mein Opa und meine Oma sich doch noch lieben, einen bestehenden Konflikt/ ein bestehendes Problem zukleistern sollte. Nicht zu vergessen ist, daß seine Eltern damals fast 40 Jahre waren. Wie dem auch sei, er wird gespürt haben, daß er eigentlich nicht erwünscht ist. Von meiner Mutter weiß ich, daß sie Andreas zu Spaziergängen usw. mitnahmen. Es ist vorstellbar, daß sich zwischen den dreien eine Eltern-Kind-Beziehung entwickelte. Abrupt ändere sich das Verhältnis 1963, als meine Eltern heirateten, in Lübbenau Arbeit und Wohnung fanden, deshalb nicht mehr so oft in Doberlug-Kirchhain waren und schließlich im November ich geboren wurde. So richtig schmerzhaft hat das sicherlich nur mein Onkel empfunden, für den damit eine Welt zusammenbrach und den die Realität um so grausamer einholte. Ich wage zu behaupten, daß er in mir einen unliebsamen Konkurrenten gesehen hat, die Ursache für die Verschlechterung seiner Lage. Meine Mutter und auch mein Vater wandten mehr Aufmerksamkeit mir zu, und das eben auch, wenn wir Oma und Opa besuchten. Vielleicht merkten sie nicht, daß ich bereits einen großen „Bruder“ hatte, der sich total zurückgesetzt und vernachlässigt fühlte und den Grund dafür nicht in seinen eigenen Eltern sah, sondern in seinen „Wahleltern“ – in meinen Eltern – und in mir.

13.01. 94

Wenn ich es so betrachte, erscheint mir ein Ereignis bei meinen Großeltern in einem anderen Licht. Ich bin einmal die Treppe zu ihrer Wohnung heruntergefallen. Diese Treppe ist ziemlich steil und beginnt unmittelbar hinter der Wohnungstür. An den Treppensturz selbst kann ich mich noch nicht erinnern, auch nicht daran, was davor und danach geschah. Rein physisch muß ich den Sturz gut überstanden haben. Ich glaube allerdings, ich bin nicht zufällig die Treppe heruntergefallen, sondern absichtlich gestoßen worden. Und für diese Tat kommt, denke ich, nur mein Onkel in Frage. Er hat damit eventuell versucht, mich zu beseitigen. Und es muß ja nicht das erste Mal und ebenfalls nicht das letzte Mal gewesen sein, daß er mich versteckt/ heimlich mißhandelt hat. Da fällt mir ein, in der Unterstufe hatte ich eine Phase, während der ich Angst vor Treppen hatte. Ich konnte keine Treppen hinuntergehen ohne das Treppengeländer in der Hand zu haben oder wenigstens die Wand an der Seite zu spüren. Besonders die breiten Treppen in der Schule waren ein Horror für mich. Ich konnte auch nicht allein stehen. Auch heute noch: Wenn ich an einem Bahnsteig stehe und weiß, daß hinter mir Leute sind, habe ich nicht selten das ungute Gefühl, daß ich jeden Moment von hinten geschubst werde. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß ich nach langer, langer Zeit wieder richtig geweint habe, als sich meine Gedanken auf diese Weise ordneten (zuletzt weinte ich aus tiefstem Gefühl am Grab meines Opas).

Einmal im Sommer, wir waren wieder mal bei den Großeltern, sind mein Onkel und ich ins städtische Freibad gegangen. Ich konnte noch nicht schwimmen. Plötzlich kam mein Onkel auf die Idee, mit mir ins tiefe Wasser zu springen. Ich wollte aber nicht, hatte Angst. Er packte mich – mein Wehren und „Geschrei“ half nichts, er war zwei Köpfe größer als ich. Er sprang mit mir ins Tiefe. Er brachte mich auch wieder heil aus dem Wasser, und ich mußte mir eingestehen, daß es so schlimm nicht wahr – trotzdem blieb es bei dem einen Sprung.

Ob ich meinen Eltern jemals davon erzählte, weiß ich nicht mehr, und wenn ich/ wir es tat(en), dann berichtete ich sicher mit Stolz davon, als wenn ich mich dabei besonders mutig gezeigt hätte. Doch die Sache nachträglich so zu beurteilen, war sicherlich nicht meine Erfindung, vielmehr wird es im Interesse meines Onkels gelegen haben. Mich seiner Meinung anzuschließen hat aber sicher keines äußeren Zwanges mehr bedurft. Irgendwann war bestimmt ein Punkt erreicht, wo ich einfach das machte, was er sagte, auch wenn ich es selbst nie gemacht hätte bzw. nicht einmal auf die Idee gekommen wäre.

 

 

aus ICH 2/ 94