von Susanne Wittmann
Fast nicht zu glauben: Ein Kind kommt auf die Welt, seine Augen erwarten liebevollen Blickkontakt, statt dessen wird ihnen eine brennende Lösung eingeträufelt. Leider ist dies immer noch für fast alle in Deutschland geborenen Kinder die traurige Realität.
Einer der ersten Angstauslöser, den ein Neugeborenes sofort nach der Geburt oder nach dem Messen, Wiegen und Durchuntersuchen im Krankenhaus erlebt, ist das Eintropfen von Silbernitratlösung in beide Augen, die sogenannte Credé-Prophylaxe. Sie soll die Gonokokkenkonjunktivitis verhüten, eine Bindehautentzündung, die eintreten kann, wenn die Mutter an Gonorrhoe (Tripper) erkrankt ist und im Geburtskanal Gonokokken, die Erreger dieser Erkrankung, in die Augen des Kindes gelangen.
K.S. Credé (1819-1892) führte diese Methode vor über 100 Jahren ein, da zu seiner Zeit, als die Gonorrhoe häufig auftrat, die Infektion der Augen der Neugeborenen eine weitverbreitete Ursache für Erblindung war.
Wie sieht es damit heute aus?
Ca. 9,3 von 100.000 Frauen sind hierzulande von der Gonorrhoe betroffen. Man hat heute auch die Möglichkeit, die Erkrankung festzustellen und zu behandeln. Trotzdem bekommt jedes Kind im Kreißsaal Silbernitratlösung in die Augen, selbst wenn es per Kaiserschnitt geboren wurde und gar nicht mit dem Geburtskanal in Kontakt gekommen sein kann. Begründet wird dies von Fachleuten damit, die „Augenprophylaxe“ sei gesetzlich vorgeschrieben. Das Gesetz wurde aber bereits 1986 abgeschafft, da nicht mehr nachzuweisen war, daß der Nutzen der Prophylaxe größer ist als die durch sie verursachten Nebenwirkungen:
- Die Silbernitrattropfen sind sehr schmerzhaft für das Kind.
- Der erste Augenkontakt, ein wesentlicher Bestandteil der Mutter-Kind-Bindung, wird durch verquollene Augen verhindert.
- Die Silbernitratlösung verursacht selbst eine Konjunktivitis und reizt die Hornhaut sehr stark. Infiziert sich das Auge des Neugeborenen mit anderen Keimen, kann dies auf der vorgeschädigten Hornhaut schwere Folgen haben.
Alternativen:
- Weglassen: In der Schweiz wurde die Credé-Prophylaxe bereits abgeschafft.
- Antibiotikahaltige Augentropfen: Diese sind in den USA alternativ zu Silbernitrat zugelassen. Der Vorteil dieser Tropfen ist, daß sie auch vor einer Konjunktivitis durch Chlamydien, die wesentlich häufiger sind als Gonokokken, schützen. (Chlamydien gehören zu den häufigsten sexuell übertragbaren Keimen, auch mit diesen kann das Kind im Geburtskanal in Berührung kommen und an einer Konjunktivitis erkranken. Vor einer Konjunktivitis beim Neugeborenen durch Chlamydien bietet die Silbernitratlösung keinen Schutz. Bei Verdacht auf eine Chlamydieninfektion empfiehlt sich eine gezielte Untersuchung und Behandlung der Schwangeren. Die durch sie verursachte Konjunktivitis ist zwar nicht so folgenschwer wie die Gonokokkenkonjunktivitis, es können hier aber auch – unabhängig von den Augen – andere Organe des Neugeborenen betroffen sein , z.B. Lungen- oder Mittelohrentzündungen).
- Die Gonorrhoe ist heilbar: Ist die Schwangere daran erkrankt, ist es besser, sie zu behandeln.
Tips für Schwangere:
- Es gibt nichts, was die Credé-Prophylaxe heutzutage noch rechtfertigt.
Am besten schon vor der Geburt klarstellen, daß sie nicht durchgeführt werden soll und das betreffende Formular unterschreiben.
- Es ist möglich, sich rechtzeitig vor der Geburt gynäkologisch untersuchen zu lassen, ob überhaupt eine Gonokokkeninfektion vorliegt. Die Untersuchung kostet 20 DM, von der Kasse wird sie nur bei begründetem Verdacht übernommen.
- Wenn man eine Infektion befürchtet und der Ansteckung des Neugeborenen vorbeugen will, kann man sich antibiotikahaltige Augentropfen besorgen (Erythromycin 0,5% oder Tetracyclin 1% verschreiben lassen) oder vor der Geburt fragen, ob die Hebamme oder Klinik sie vorrätig hat.
Literatur:
Ackerknecht: Geschichte der Medizin, Enke, 1986 Alexander, Raettig: Infektionskrankheiten, Thieme, 1992
Knörr, Beller, Lauritzen: Geburtshilfe und Gynäkologie, Springer, 1989 Tietze: Die Credé-Prophylaxe – Bericht einer Kommission des Bundesgesundheitsamtes, Perinatal Medizin, 1994
Öko-Test-Magazin, 5, 1994
Weed: Naturheilkunde für schwangere Frauen und Säuglinge, Orlanda Frauenverlag, 1994
Wir übernehmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift EMOTION, Ausgabe 12/13
aus ICH Frühling 1998