Das Ungeborene – ein ganzheitliches Wesen. Neue Forschungsergebnisse aus der Beobachtung vorgeburtlichen Verhaltens

von David B. Chamberlain

Die Haut und die Gewebe, die die Gebärmutter verdecken, versperren heute nicht länger den Blick auf die Anfänge menschlichen Lebens und menschlicher Bewegungen. Die technischen Errungenschaften machen es heutzutage möglich, sämtliche 266 Schwangerschaftstage zu beobachten. Damit ist unsere Generation die erste, der dieser umfassende Einblick in die Entwicklung gewährt wird. Photographie in utero – in der Gebärmutter – ermöglicht den Blick in den Körper und bietet ein Bild von der Empfängnis, der ersten Zellteilung und der anschließenden embryonalen Entwicklung. Dieser Aufsatz stellt die wichtigsten Ergebnisse aus den Beobachtungen in den 40 Schwangerschaftswochen vor.

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Die Ultraschalluntersuchung, die in den 60er Jahren erstmals in der Geburtshilfe eingesetzt wurde, hat ein Fenster zur Gebärmutter geöffnet, das viele Überraschungen gebracht hat, darunter das (bislang) geheime Leben von Zwillingen. Medizinische Instrumente, die gleichzeitig die Körperbewegungen und den Herzschlag in utero messen, zeigen, daß Aktion und Reaktion des Fötus integriert sind. Und schließlich überleben dank der Fortschritte in der Geburtshilfe heute selbst extrem früh Geborene, so daß sich die letzten 15 bis 16 Schwangerschaftswochen auch außerhalb der Gebärmutter beobachten lassen.

Durch diese technische Entwicklung hat die experimentelle Psychologie bessere Möglichkeiten zur Kommunikation mit Ungeborenen erhalten. Natürliche „Sprachen“ wie Bewegung, Herzschlag und Schlucken sind Ausdruck von Bewußtheit, Interesse und Lernen.

Die daraus gewonnenen Erkenntnisse über das Leben vor der Geburt sind so reichhaltig wie revolutionär. Sie haben fast alles, was wir vor 30 Jahren über pränatales Verhalten zu wissen glaubten, zumindest in Frage gestellt; das meiste muß als veraltet gelten. Die Beschreibung des ungeborenen Lebens erfordert neue Paradigmen. Forschungsergebnisse zeigen, daß menschliches Verhalten selbst in den frühesten Stadien integriert und komplex ist. Das läßt sich am Beispiel des Herzens erkennen: Es beginnt bereits ca. einen Monat nach der Empfängnis zu schlagen und schlägt während des gesamten, komplizierten Prozesses seines Aufbaus und seiner Entwicklung weiter.

Ähnlich ist es mit dem Nervensystem, das ebenfalls arbeitet, während es sich weiter ausdifferenziert. Schon vor der zehnten Schwangerschaftswoche gewinnen die bis dahin wie Zuckungen wirkenden Körperbewegungen des Fötus an Eleganz. Bei Zwillingsföten lassen sich schon nach der Hälfte der Schwangerschaft deutliche Interaktionen beobachten; Einzelföten sind in diesem Alter bereits zu „Strampelspielen“ mit den Eltern fähig. Trotzdem finden sich in den Lehrbüchern zur Entwicklungspsychologie nur wenig Hinweise auf die tiefreichende Bedeutung des vorgeburtlichen Lebens.

Einflußreiche Theorien über die Entwicklung des Kindes nehmen keinerlei Bezug auf das pränatale Leben, wie Kritiker in den letzten Jahren moniert haben. Solche Theorien litten unter der fehlenden Möglichkeit direkter Beobachtung, aber auch unter dem Vorurteil, daß bedeutsames menschliches Verhalten erst Monate nach der Geburt zu erwarten sei. Besonders negativ hat sich die Auffassung ausgewirkt, derzufolge das unfertige Gehirn vor und selbst bei der Geburt keine sinnlichen Wahrnehmungen, Gefühle, Lernen/Gedächtnis, Persönlichkeit oder Denken zuläßt. Obwohl sich diese Auffassung mit den heutigen Erkenntnissen nicht mehr verträgt, wird sie immer noch herangezogen, um die Anzeichen fötaler Intelligenz herunterzuspielen, schmerzhafte Methoden in Chirurgie und Geburtshilfe sowie unsensible Adoptionspraktiken zu legitimieren und Eltern zu entmutigen, mit dem Baby während der Schwangerschaft zu kommunizieren.

Selbstinitiierte Aktivität

Bewegung hat vielfältige Funktionen, zum Beispiel Erkundung, Selbstschutz, Ausdruck der Individualität und Kommunikation. Körpersprache weist unübersehbar auf Bedürfnisse, Interessen, Begabungen, Gefühle und geistige Prozesse hin. Der normalen Sprache ist sie in vielem überlegen, weil sie sehr viel früher einsetzt, die Kommunikation beschleunigt, sehr häufig auftritt und lebenslang dieselben Bedeutungen transportiert. Alle Menschen beherrschen diese Sprache.

Ultraschalluntersuchungen haben gezeigt, daß sich der Fötus bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche zu bewegen beginnt. Die Bewegungen nehmen von Woche zu Woche zu, bis sich zwischen acht und zehn Wochen der größte Teil des Bewegungsrepertoires erkennen läßt. Mit zehn Wochen werden folgende Bewegungen ausgeführt: Hand zum Kopf, Hand zum Gesicht und Hand zum Mund, eigenständiges Beugen und Strecken der Glieder, Rotationsbewegungen um die Längsachse, Schlucken, Öffnen und Schließen des Mundes.

Ab der zehnten oder zwölften Woche wird das Verhaltensrepertoire von erfahrenen Beobachtern nicht als reflexhaft, sondern als von innen kommend, spontan und anmutig beschrieben. Eigenständige Beweglichkeit tritt früher auf als von außen hervorgerufene, eine Tatsache des embryonalen Lebens, die selten berücksichtigt wird.

Zwillinge weisen in utero oft sehr unabhängige Bewegungsprofile auf und differenzieren sich auf diese Weise kontinuierlich weiter, innerhalb wie außerhalb der Gebärmutter. Fast alle Föten im Alter von 10 bis 15 Wochen bewegen sich innerhalb von Sekunden nach dem Lachen oder Husten der Mutter.

Im ersten Trimester (den ersten drei Schwangerschaftsmonaten, – A.P.) bewegen sich einzelne Föten bis zu siebeneinhalb Minuten lang; in einer Studie betrug die längste Ruhephase fünfeinhalb Minuten. Eine Bewegungsanalyse im dritten Trimester hat gezeigt, daß diese frühen Bewegungen während der Schwangerschaft anhalten, bis der Raum zu eng wird.

Wenn der Fötus größer wird, bleibt er normalerweise in der Längslage. William Liley hat festgestellt, daß sich die Föten von einem Ende des Uterus zum anderen bewegen, indem sie sich mit Füßen und Beinen abstoßen. Der Seitenwechsel erfordert aber eine elegante Drehung um die Längsachse, die eine Drehung des Rückgrats, Rotation von Kopf und Schultern und Anspannung der langen Spinalmuskeln erfordert. Außerhalb der Gebärmutter läßt sich dieses kunstvolle Manöver erst drei oder vier Wochen nach einer termingerechten Geburt beobachten, wenn die Babys sich an die Schwerkraft und die Bewegungen „auf dem Trockenen“ gewöhnt haben.

Bereits vor der zehnten Woche nimmt der Fötus über den offenen Mund Flüssigkeit auf. Schlucken und Zungenbewegungen beginnen vor der 14. Woche, in der die Reifung der Geschmacksknospen nachgewiesen wurde. Manche Studien haben gezeigt, daß die Schlucktätigkeit bei süßem Geschmack zu- und bei bitterem abnimmt. Experimente mit früh- und termingerecht geborenen Säuglingen haben ergeben, daß die Bevorzugung von Süßem auch weiterhin anhält. Süßes hat anscheinend darüber hinaus einen beruhigenden, analgetischen Effekt.

Saugen wurde erstmals um die neunte Woche beobachtet und entwickelt sich zu einem ausgesprochenen Zeitvertreib, an dem Hände, Füße, Finger und Zehen beteiligt sind. Manche Föten lutschen so ausdauernd am Daumen, daß sich eine Schwiele bildet, die bei der Geburt erkennbar ist. Pausen, Tempo und Impulse beim Saugen werden von experimentellen Psychologen mit Erfolg als Mittel zur Kommunikation mit den Babys genutzt.

Erektionen (verbunden mit Daumenlutschen) bei männlichen Säuglingen, die bislang ab etwa der 26. Woche beobachtet wurden, lassen sich dank der Fortschritte in der Technologie problemlos vor der 16. Schwangerschaftswoche nachweisen – ein wahrhaft unerwarteter Vorläufer der „infantilen“ Sexualität!

Die Hände sind in utero sehr aktiv, sie greifen nicht nur nach Füßen und Zehen, sondern häufiger noch nach der stets gegenwärtigen Nabelschnur. Ein Psychologe hat daraus geschlossen, sie könne sich so fest abklemmen lassen, daß ein veränderter Bewußtseinszustand erzielt wird.

Die kontinuierliche Interaktion zwischen Händen, Nabelschnur, Zehen und Gesicht in der Gebärmutter geht der Koordination von Hand und Mund und der Koordination und Verbindung der Armbewegungen, die kurz nach der Geburt festgestellt wurden, um Monate voraus.

Die Atembewegungen des Fötus können heute mit Hilfe der Doppler- und Ultraschalltechnologien beobachtet werden: Sie zeigen sich vor der 24. Woche in isolierten Impulsen, wer den um die 28. Woche periodisch und nach 36 Wochen einheitlich. Im dritten Trimester lassen sich Atembewegungen in 30 bis 80 Prozent der Zeit feststellen; sie gelten als Zeichen für gute Gesundheit. Es gilt als bedrohlich, wenn die Atembewegungen aufhören, wie das etwa der Fall ist, wenn die Mutter Beruhigungsmittel, Nikotin oder Alkohol zu sich nimmt.

Bei Frühgeborenen haben Schlafstudien ein sehr aktives Traumleben nachgewiesen. Die jüngsten Frühgeborenen sind dabei die stärksten Träumer. Der prozentuale Anteil der Träume am Schlaf liegt in der 30. Woche bei ca. 100 Prozent, sinkt zwischen der 33. und 35. Woche auf 67 Prozent und um die 40. Woche auf unter 50 Prozent; sechs Monate nach der Geburt beträgt er nur noch ca. 30 Prozent.

Träume, begleitet von lebhafter und dramatischer Körpersprache, treten im „aktiven“ Schlaf auf: Beobachter erkennen deutlich Grimassen, Wimmern, Lächeln, Zuckungen des Gesichts und der Extremitäten, Bewegungen von Körper und Gliedern.

Während der schnellen Augenbewegungen (REMs), die Träume anzeigen, gibt es häufige Episoden von 10 bis 15 Sekunden Dauer, in denen ein Zucken von Leib, Gliedern, Fingern und Zehen auf „schlechte“ Träume deutet. Denen stehen die freudige Mimik und die friedlichen Bewegungen während der „schönen“ Träume gegenüber. Beobachter träumender Frühgeborener haben eine Vielzahl mimischer Ausdrücke registriert, die auf Gedanken und Gefühle schließen lassen, die im wachen Zustand nicht zum Repertoire dieser Babys gehören.

Das erste menschliche Lächeln wurde bislang auf dem Gesicht träumender Frühgeborener beobachtet. Lächeln ist bei voll ausgetragenen Babys nach der Geburt selten, aber das liegt vielleicht eher an den Bedingungen als an Disposition oder Fähigkeit. In manchen Kulturen, zum Beispiel in Thailand, lächelten (oder lachten) viele Babys bei der Geburt, deren Mütter an einem Programm zur pränatalen Stimulierung teilgenommen hatten.

Sechs Wochen nach einer termingerechten Geburt sind die meisten Kinder in der Lage, das Lächeln eines Erwachsenen zu erwidern (das sogenannte „Reaktionslächeln“). Bei Lernexperimenten mit Neugeborenen tritt spontanes Lächeln manchmal auf, wenn Babys eine Übereinstimmung erkennen oder etwas beherrschen – hier handelt es sich eindeutig um ein „kognitives“ Lächeln.

Ultraschalluntersuchungen haben gezeigt, daß schnelle Augenbewegungen (und potentiell Lächeln) erstmals in der 23. Schwangerschaftswoche auftreten. Die schnellen Augenbewegungen werden bis zur 36. Woche, in der der erste „tiefe“ Schlaf beobachtet wurde, zunehmend häufiger. Danach wächst, wie bereits erwähnt, der Anteil des ruhigen Schlafs am Traumschlaf. In manchen Ultraschalluntersuchungen wurde bei der Interaktion von Zwillingen Lächeln in utero beobachtet.

Reaktives Verhalten

Bewegung in utero wird häufig durch eine Bedrohung aus der Umwelt provoziert, die zu abwehrenden, schützenden Gesten und unruhigen Reaktionen führt. Diese Bewegungen kann man als frühe Beispiele für selbstregulierendes Verhalten oder kreative Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Umwelt verstehen; Fähigkeiten also, die erst später in der Entwicklung angesiedelt wurden.

Die erste Reaktion dieser Art tritt in der siebten Schwangerschaftswoche auf: das Streifen eines Haares an der Wange führt dazu, daß der Kopf des Kindes sich abwendet, Rumpf und Becken sich beugen und Arme und Schultern aus gestreckt werden, um dadurch das Haar wegzuschieben.

Diese Berührungsempfindlichkeit erweitert sich schnell: in der zehnten Woche auf die Genitalien, in der elften auf Handflächen, Arme und Beine, in der zwölften auf die Fußsohlen. In der 17. Woche reagiert praktisch die gesamte Hautoberfläche auf Berührung durch ein Haar.

Auch sehr helles Licht kann Verstörung auslösen. Wenn man ein sehr helles Licht auf den Scheitel des Fötus unter der Bauchdecke richtet, beschleunigt sich der Herzschlag. Diese Beschleunigung tritt so zuverlässig ein, daß sie als klinischer Test für die Gesundheit des Fötus genutzt wird.

Ungeborene reagieren auch auf die Einführung von Nadeln in das Fruchtwasser. Bei der Amniozentese, die normalerweise zwischen der 14. und 16. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird, wird unter Kontrolle durch Ultraschall eine Nadel in die Gebärmutter eingeführt. Mütter konnten auf dem Monitor erkennen, daß sich die Babys vor der Nadel zurückziehen, obwohl die Lider zwischen der 10. und der 26. Woche noch fest geschlossen sind.

Birnholz und andere haben einen Fötus in der 24. Woche beobachtet, der zufällig von der Nadel berührt wurde. Nachdem er sich weggedreht hatte, lokalisierte er die Nadel mit dem Arm und schlug wiederholt darauf ein!

Nach der Fruchtwasserentnahme bei der Amniozentese erstarren manche Föten wie in einem Angst- oder Schockzustand; der Herzschlag nimmt zu und fällt dann ab, manchmal kommt es auch zu einem Verlust der Schlag-zu-Schlag Frequenz. In manchen Studien haben sich die Atembewegungen des Fötus drastisch verringert; sie erreichten manchmal erst nach mehreren Tagen wieder die frühere Häufigkeit. Die Ärzte wissen nicht, wieso der Verlust einer so geringen Flüssigkeitsmenge zu solchen Reaktionen führt, vor allem, weil sich gerade Fruchtwasser sehr schnell wieder neu bildet.

Beim Einführen der Nadel bei intrauterinen Bluttransfusionen haben Ärzte lebhafte Körper- und Atembewegungen beobachtet, die Streß anzeigten. Eine Messung der Kortison- und B-Endorphin-Reaktion auf diese Prozedur ergab einen sehr hohen Anstieg bei beiden Substanzen (183 bzw. 590 Prozent), mit anderen Worten: eine umfassende hormonale Streßreaktion auf das Eindringen der Nadel. Die Autoren der letzten Studie sehen darin möglicherweise den ersten Nachweis von Schmerzen in utero.

Bewegung und Gefühl scheinen unauflöslich miteinander verbunden. Bei Rockkonzerten haben Schwangere durch das heftige Strampeln ihrer Ungeborenen sogar Rippenbrüche erlitten. Das Proteststrampeln bei gewalttätig klingender Musik ist ein Beispiel für den Ausdruck von Gefühlen durch Bewegung.

Die bewegenden Bilder von Abtreibungen 12 bis 15 Wochen alter Föten, die ihre Augen zusammenkneifen und grimassieren, sind der wohl früheste Beweis für den Ausdruck von Emotionen. Humprey hat bei einem Literaturüberblick auch mehrere Berichte über hörbares Schreien bei Abtreibungen zwischen der 21. und 23. Schwangerschaftswoche gefunden. Henry Truby, der als einer der ersten das Schreien des Säuglings spektographisch erfaßt hat, hat den Schrei eines Fötus mit einem Gewicht von 900 g (26. bis 27. Woche) nach einer Abtreibung analysiert; dieser Schrei wies bereits viele Merkmale der mütterlichen Stimme auf.

Schreien in der Gebärmutter galt bislang als unmöglich, weil es eine Luftzufuhr in der Nähe der Larynx (Luftröhre) des Fötus erfordert. Unter gewissen, sehr seltenen Umständen allerdings kann Luft diesen Bereich erreichen, und das Schreien wird hörbar. Dieses als vagitus uterinus bezeichnete Schreien im Mutterleib ist selten, aber 140 Fälle sind belegt. Heute stehen solche Fälle in der Regel mit medizinischen Eingriffen kurz vor dem Geburtstermin in Verbindung; sie repräsentieren also das Schreien gegen Ende der Schwangerschaft. Insgesamt ist hörbares Schreien von der 21. bis zur 40. Schwangerschaftswoche belegt und doch wird es in der Psychologie nicht berücksichtigt.

Obwohl Gefühle sicherlich nicht erst mit der Geburt auftreten, wird das Schreien danach sehr viel kräftiger. Der Herzschlag beim Schreien ist unbeständig und erreicht oft Gipfelwerte von mehr als 200 Schlägen pro Minute. Um ein harmloses Phänomen handelt es sich also nicht. Schreien ist eine deutliche Botschaft und lenkt die Aufmerksamkeit zwangsläufig auf das Leid eines Säuglings.

Die mangelnde Bereitschaft, Ungeborenen Gefühle zuzubilligen, basiert vermutlich auf den gleichen Theorien des Gehirns, die den Ungeborenen auch die Möglichkeit von Schmerzreaktionen absprechen. In den letzten hundert Jahren haben Mediziner fast durchgängig darauf beharrt, daß Säuglinge keinen Schmerz empfinden, weder bei der Geburt noch bei der Beschneidung oder so gar bei größeren chirurgischen Eingriffen – und das trotz des unübersehbaren Gezappels, Gestrampels, Grimassierens, dramatischen Geschreis und der kräftigen Abwehrbewegungen. Erst heute wird diese frappierende Fehleinschätzung, die für sinnloses Leiden in den letzten hundert Jahren verantwortlich ist, von der Medizin teilweise korrigiert.

Hörverhalten

Geräusche sind ein bedeutsames Merkmal der uterinen Umgebung und provozieren vielfältige Bewegungen. Experimente haben gezeigt, daß Föten sich bei ruhiger klassischer Musik beruhigen und bei lauten Geräuschen hyperaktiv werden. Neugeborene scheinen von Musik fasziniert, die sie während der Schwangerschaft häufig gehört haben.

Diese Fähigkeit zur Unterscheidung von Geräuschen ist ein Beispiel für frühes Lernen und Gedächtnis. Obwohl das Ohr erst um die 25. Schwangerschaftswoche voll entwickelt ist, ist nach Meinung mancher Forscher ein früheres „Hören“ durch das Zusammenspiel mit dem Gleichgewichtsorgan und dem Körperwahrnehmungssystem möglich. Auf der Suche nach frühen Indikatoren der Taubheit haben Shahidullah und Hepper festgestellt, daß Föten bereits um die 16. Woche auf Geräusche reagieren. Damit erweitert sich die potentielle Zeit des Hörens in utero auf fast sechs Monate.

Dank der Reaktionsbereitschaft des Fötus konnte das klassische Konditionieren bestätigt werden. Feijoo konditionierte eine Gruppe von Föten auf das Fagotthema aus Prokofieffs „Peter und der Wolf“. Nach der Geburt hörten die Babys auf zu schreien und wurden ruhiger, wenn sie diese Musik hörten.

Bei einem neuen Experiment zum intrauterinen Lernen wurde ein Kinderreim benutzt, der zwischen der 33. und 37. Woche täglich wiederholt wurde. Die Ungeborenen reagierten mit verlangsamtem Herzschlag, wenn sie vom Tonband den entsprechenden Reim hörten.

Pränatales Lernen von Melodien, Geschichten und Sprachgeräuschen wurde unmittelbar nach der Geburt anhand unterschiedlichen Verhaltens demonstriert. So konnten über die pränatalen Lernexperimente frühere Zeitlinien für unterschiedliche Typen von Lernen etabliert und bei der Geburt bestätigt werden.

Interaktive/ soziale Bewegungen

Die wohl überzeugendste Dokumentation interaktiven Verhaltens in utero stammt aus der systematischen Ultraschallbeobachtung von Zwillingen. Alessandra Piontelli hat stundenlang die Begegnung von Luca und Alicia beobachtet, die sich durch die Eihülle hindurch sanft berührten. In der 20. Schwangerschaftswoche war der Junge sehr aktiv und wach, das Mädchen still und verschlafen. In regelmäßigen Abständen bewegte er sich zu der trennenden Eihülle und weckte die Schwester, die jedesmal reagierte. Die beiden rieben Köpfe und Wangen aneinander, küßten sich, streichelten ihre Gesichter und berührten sich mit den Füßen, bevor sie sich wieder ihren jeweiligen Aktivitäten zuwandten. Dr. Piontelli und die ebenfalls zuschauenden Eltern nannten sie die „freundlichen Zwillinge“.

Die Qualität ihrer Beziehung aus der 20. Woche hielt auch nach der Geburt an. Mit einem Jahr konnten sie laufen, begannen zu sprechen und spielten sehr gern zusammen. Am liebsten versteckten sie sich hinter einem Vorhang, den sie dann genauso benutzten wie früher die trennende Eihülle. Luca schob den Vorhang mit der Hand vor, Alicia, die dahinterstand, streckte ihren Kopf danach aus, und es begann unter Krähen und Lachen wieder das gegenseitige Streicheln.

Solche Aufzeichnungen fötaler Interaktion sind selten, aber nicht einzigartig. Timothy Johnson hat ein Video von Zwillingen aufgenommen, die sich, wie er sagt, „eine Schlägerei liefern“. Birgit Arabin, international bekannt durch ihre Ultraschallforschungen, besitzt ein Video, auf dem sich Zwillinge küssen; das Kind, das den Kuß empfing, soll einen glückseligen Gesichtsausdruck gehabt haben.

Diese Ultraschallaufnahmen von Zwillingen dokumentieren sowohl Emotionen als auch soziale Interaktion. Niemand hat je angenommen, daß so etwas schon in der 20. Schwangerschaftswoche möglich wäre.

Zwillinge lehren uns, was wir intuitiv schon hätten wissen können: Die Gebärmutter ist ein Ort kontinuierlicher Interaktion, in der die Beziehungen eher „duo-“ als egozentrisch sind. Der Fötus und seine Mutter sind nie getrennt, sie essen, schlafen, bewegen sich, rauchen, nehmen Medizin und haben Unfälle – gemeinsam. Unter dem Wutanfall eines psychotischen Ehemanns leiden beide, Mutter und Fötus. Nach einem Erdbeben zeigten sich bei Föten im Mutterleib intensive Hyperkinesien, die zwischen zwei und acht Stunden anhielten.

In einem neueren Experiment wirkten sich die emotionalen Reaktionen der Mütter auf einen verstörenden Fernsehfilm sowohl unmittelbar als auch langfristig auf die Föten aus. In der Wartezeit vor einer Amniozentes sind die Föten aktiver als vor einer routinemäßigen Ultraschalluntersuchung.

Föten im dritten Trimester sind zwangsläufig an den sexuellen Aktivitäten ihrer Eltern beteiligt. Auf den Orgasmus von Mutter und/oder Vater reagiert der Fötus mit sehr vereinzelten und steil abfallenden Herzschlägen: Bradykardie, Tachykardie, Beschleunigung und Verlangsamung um mehr als 30 Schläge pro Minute und in manchen Fällen Verlust der Schlag-zu-Schlag-Frequenz.

Bei einem Programm zur pränatalen Stimulierung und Bindung sollten die Eltern auf Strampelbewegungen des Fötus achten und ein interaktives Spiel in Gang setzen, bei dem die Tritte mit Berührungen beantwortet wurden. Die Föten lernten schnell, auf den Reiz zu reagieren und gegen die berührten Stellen zu treten.

Der Beitrag der Frühgeborenenforschung

Da sich Frühgeborene kontinuierlich beobachten und messen lassen, haben sie viel zum Verständnis des Verhaltens vor der 40. Schwangerschaftswoche beigetragen. Die Intensivstationen der Säuglingskliniken sind ein natürliches Labor für die prä- und perinatale Psychologie.

Tiffany Field hat mit ihren Kollegen in einer Reihe experimenteller Interventionen verschiedene Formen sanfter Berührung und Massage getestet. Die Babys reagierten sehr gut: Sie atmeten besser, erschreckten weniger schnell, entspannten die Fäuste und waren wacher und aktiver. Dieses Verhalten entsteht durch die Interaktion mit Erwachsenen und ist sowohl intim als auch sozial.

Babys reagieren auf Musik. Auf einer Frühgeborenenstation konnte die Gewichtszunahme durch Musik beschleunigt werden. Zu den therapeutischen Vorzügen der Musik gehören signifikante Verbesserungen in der Sauerstoffaufnahme und im Verhaltenszustand von intubierten, aufgeregten Frühchen.

Erregte Frühgeborene beruhigten sich in weniger als zehn Minuten bei einer Kombination aus normalen Gebärmuttergeräuschen und den simulierten Geräuschen, die beim Gesang einer weiblichen Stimme in der Gebärmutter entstehen.

Bei einem neueren Experiment wurden Frühgeborene mit einem Gewicht von unter 2.000 g in ein spezielles Bettchen gelegt, das in sachten „Schmetterlingsbewegungen“, die den Bewegungen beim Gehen der Mutter nachempfunden waren, hin und her schwang, begleitet von intrauterinen Geräuschen vom Tonband. Die Babys aus der Experimentgruppe wuchsen schneller, Atemstillstand war seltener, ihr Verhalten war mental und emotional reifer, und sie wurden acht Tage früher aus dem Krankenhaus entlassen als die Babys der Kontrollgruppe.

Aus der Interaktion mit Frühgeborenen wissen wir, daß sie Gestik und Mimik der Erwachsenen nachahmen können, eine Fähigkeit, die zuerst bei voll aus getragenen Neugeborenen nachgewiesen wurde. Frühgeborene können in der 35. Woche den Ausdruck von Glück, Trauer und Überraschung imitieren. Dieses gewinnende und komplizierte Verhalten, das sich keineswegs leicht erklären läßt, ist eindeutig kommunikativ und spielt sich im Kontext einer sozialen Begegnung ab.

Mosser hat gezeigt, daß Frühgeborene sehr genau wahrnehmen, ob jemand sie oder andere anspricht: Ihr Herzschlag beschleunigt sich, wenn man sie direkt anspricht, verlangsamt sich, wenn man mit jemand anderem spricht und wird wieder schneller, wenn man sich ihnen sprachlich erneut zuwendet. Dieser Effekt läßt sich auch bei Neugeborenen nachweisen.

Schlußfolgerungen

  1. Die Beobachtung des Verhaltens in den gesamten 266 Tagen der menschlichen Entwicklung ist heute auf verschiedenen Ebenen möglich: mikroskopisch, photographisch und sonographisch (durch Ultraschall). Auch formale Experimente waren sehr aufschlußreich, wenn sie auf der natürlichen Fähigkeit der Ungeborenen basierten, zu hören, zu schmecken, zu sehen und sich zu bewegen. Frühgeborene Babys auf Intensivstationen geben darüber hinaus Aufschluß über das Verhalten in den letzten Schwangerschaftsmonaten.
  2. Bewegungen und Aktivitäten des Fötus, die während des ersten Trimesters ausdrucksvoll werden, sind eine klare Kommunikationsform weit vor der Entwicklung formaler Sprache, eine universell menschliche Form der Kommunikation, die in der gesamten Lebenszeit erhalten bleibt.
  3. Früher, als Beobachtung so gut wie unmöglich war und die Spekulation blühte, hielt man pränatales Leben für vegetativ, ohne jede kognitive und affektive Dimension. Die heutige Forschung zeigt dagegen, daß es schon vor der Geburt Schmerz, Vorlieben, Interessen, Lernen, Erinnerung, aggressives Verhalten, Furcht, Weinen, Lächeln und Zuneigung gibt.
  4. Bewegungen sprechen für sich selbst. Selbstinitiierte Bewegungen zeugen von individuellen Bedürfnissen, Interessen und Temperamenten.
  5. Reaktive Bewegungen zeigen Bewußtheit, Sensibilität, Emotionen und defensive Bewältigung von Umweltbelastungen.
  6. Interaktive Bewegungen demonstrieren die Fähigkeit zu intimen und sozialen Beziehungen (sowohl freundlich als auch aggressiv) wie auch zu Gedächtnis und Lernen.
  7. Beobachtungen von der Empfängnis bis zur Geburt zeigen ein Kontinuum pränatalen und postnatalen Verhaltens, in dem sensorische, motorische, emotionale und kognitive Merkmale stets miteinander verbunden sind.
  8. Und schließlich entziehen die gegenwärtigen Forschungsergebnisse falschen Grenzsetzungen, Einschränkungen und Vorurteilen den Boden und zeigen, daß das Ungeborene ein ganzheitliches Wesen ist, das in seinem pränatalen Schulzimmer ein ganzes Spektrum von Erfahrungen macht.

 

 

Wir übernahmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung aus dem 1997 im LinguaMed Verlag Neu-Isenburg erschienenen und von Ludwig Janus und Sigrun Haibach herausgegebenen Band „Seelisches Erleben vor und während der Geburt“. In diesem Buch sind auch die umfangreichen Literaturangaben zu diesem Beitrag enthalten.

 

 

aus ICH Winter 97/ 98