Bastian. Aus dem Tagebuch eines Neugeborenen

von Peter Segler

Anbei schicke ich Ihnen einen Text zur Veröffentlichung. Das ist ein Experiment, da dieser Text eigentlich nicht dafür geschrieben ist. Es ist ein authentischer Auszug aus dem Tagebuch, das ich für meinen drei Tage jungen Sohn begonnen habe, zu schreiben.

Ich merke heute schmerzlichst, daß mir selbst solch ein Tagebuch über meine frühe Kindheit fehlt. Sehr viele Zusammenhänge könnte ich verstehen, an die Wurzeln vieler psychischer Störungen könnte ich herankommen, hätten meine Eltern damals ein solches Tagebuch für mich begonnen. Meinem Sohn soll es besser gehen … aber auch anderen. Das ist der Grund, warum ich Ihnen diesen Text schicke. Die Zustände bezüglich einer gewaltlosen, möglichst natürlichen Geburt sind, zumindest in der Provinz des Ostens, verheerend und unerträglich. Unsere persönlichen Erfahrungen sind ein trauriger Beweis dafür …

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Sonntag, 23.06.91

Herzlichen Glückwunsch – Du bist ein Sonntagskind!

Und ich, Dein „frischgebackener Vater“ sitze nun hier – es ist Mittag – und lasse meine Gedanken zu Euch beiden dort in der sterilen, stickigen Klinik fliegen.

Ich versuche, das alles zu rekapitulieren, was gestern, heute, was in den vergangenen Wochen und Monaten geschehen ist.

Wir wünschten Dir eine gewaltfreie Geburt.

Wir waren zornig auf die Verhältnisse, die noch immer hier herrschen.

Wir mußten einsehen, daß wir zu spät begannen, nach echten Alternativen zu suchen.

Deine Mutter und ich hatten uns am Ende der Schwangerschaft sehr intensiv mit Fragen einer wirklich menschlichen, gewaltlosen Geburt beschäftigt. Wir lasen Bücher von Leboyer, Artikel von Eva Reich und Hans-Joachim Maaz, unterhielten uns mit anderen Familien über ihre Erfahrungen und Ansichten. Vergebens bemühten wir uns um einen Termin beim Chefarzt der Freiberger Frauenklinik.

Vor drei Tagen rief Deine Mutter noch im Diakonissenkrankenhaus in Dresden an, um die dortigen Möglichkeiten auszuloten. Es war aber schon zu spät.

Du drängeltest an Licht der Welt.

Wir hatten den Wettlauf mit der Zeit verloren.

Gestern nachmittag fuhr ich zu Deiner Mutter nach Naundorf, um sie abzuholen.

Ich hatte an diesem Tag ein äußerst interessantes und sehr intensives Seminar zur Themenzentrierten Interaktion mit Marcella Schäfer aus Berlin erlebte und wünschte, daß auch deine Mutter die Gelegenheit bekam, diese faszinierende Frau persönlich kennenzulernen. Sie wohnte für dieses Wochenende bei mir zu Hause, und so hatten wir abends dann auch noch eine sehr anregende und offene Unterhaltung miteinander.

Vor unserer Abfahrt nach Freiberg machten wir noch einen kleinen Spaziergang wie so oft entlang dem Bobritzsch-Tal, doch Deine Mutter klagte bereits über heftige Rückenschmerzen.

Wir mußten sehr oft Pause machen und ausruhen.

Deine Mutter war beunruhigt und konnte die Schmerzen nicht mehr so recht deuten. Wir kehrten um und fuhren schließlich nach Freiberg.

Gemeinsam mit Marcella aßen wir Abendbrot und gingen dann zu Bett. Ich schlug Deiner Mutter ein Bad vor. Im Wasser spürte sie Deine Last und die Rückenschmerzen nicht mehr so sehr.

Später im Bett massiert ich sie lange und ausgiebig. Doch sie wurde immer unruhiger.

Dann war es soweit.

Ein eindeutiges Zeichen für den Beginn Deiner Geburt: Die Fruchtblase sprengte und Deine Mutter bekam die ersten deutlichen Wehen.

Das war gegen Mitternacht. Draußen zuckten verlorene Blitze durch die Nacht. Von fern hörte man es bedrohlich grollen.

Ich versuchte, Deine Mutter zu beruhigen.

Sie hatte Angst. Auch Marcella war sehr anteilnehmend. Sie streichelte Deiner Mutter und versprach ihr, für euch beide zu beten.

Dann fuhren wir in die Klinik.

Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl.

Wir kannten dort keinen Menschen und waren ihnen doch bedingungslos ausgeliefert. Ich wollte dennoch nichts unversucht lassen und bat die diensthabende Hebamme um ein Gespräch. Sie sagte zu, verschwand dann aber und schickte eine Ärztin zu mir.

Ihren Namen habe ich mir nicht gemerkt, aber ihre Worte und ihr Auftreten werde ich nie vergessen.

Als erstes teilte sie mir mit, daß es sie sehr befremde, meinem Wunsch nach Teilnahme an der Geburt meines Kindes zu vernehmen, da ich doch nachweisbar keinen einzigen der von ihrer Klinik angebotenen Geburtslehrgänge und Aufklärungsvorträge besucht hätte. Auch befremde sie aufs Äußerste, daß wir erst so spät in die Klinik kommen , da die Patientin (!) bereits Preßwehen hätte.

Ich versuchte ihr zu erklären, daß es mir in diesem Augenblick nicht darum gehe, meine Nichtteilnahme an irgendwelchen zweifelhaften Lehrgängen zu rechtfertigen und schilderte ihr unseren Wunsch nach einer möglichst gewaltfreien Geburt.

Ich betonte, daß es für uns das Wichtigste wäre, die Nabelschnur zwischen Dir und Deiner Mutter erst zu trennen, wenn Du, auf ihrem Bauch geborgen, selbständig und ohne Zwang zu Deinem Atem gefunden hättest.

Dieser Fakt war unser wichtigstes Anliegen.

Alles andere: keine unnötigen Elektroden für Dein Köpfchen, kein grelles, blendendes Licht bei der Geburt, keine lauten Stimmen, keine unnötigen Augentropfen, kein Betäubungsmittel und vieles mehr – daß alles erschien mir im Augenblick des Gespräches mit dieser Ärztin als zweitrangig, da ich das komplette Unverständnis hinter ihren Worten und ihrer herablassenden Gestik verspürte.

So konzentrierte ich mich also vor allem auf den Abnabelungsvorgang, da dieser ja bekanntlich, nach herkömmlicher Art praktiziert, die meisten Schockneurosen für das gesamte Leben des Betroffenen hervorrufen kann.

Aber ich appelliere gegen eine Wand aus Beton – gegen eine Wand aus starrer Intoleranz, Überheblichkeit und irgendwo auch chronischer, neurotischer Angst.

Auf meinen Wunsch nach einer sanften Abnabelung hin fragte mich die Ärztin, ob ich vielleicht Medizinstudent sei oder ähnliche Kompetenzen aufweise.

Nachdem ich dies verneinte, sprudelte aus ihrem Mund ein gewaltiger Redeschwall, der am Ende zum Ausdruck brachte, daß sie sechs Jahre lang Medizin studiert habe, danach eine Facharztausbildung in Kinderheilkunde absolviert hatte und schließlich in diesem Fach promovierte. Außerdem verhelfe sie schon soundsoviele Jahre Kindern ans Licht der Welt. Ich entgegnete ihr darauf, daß ich nichts an ihrer Fachkompetenz und ihren jahrelangen Erfahrungen in Frage stelle und bat sie nochmals eindringlichst, unseren Wunsch nach einer sanften Geburt, einer gewaltfreien Abnabelung zu respektieren. Daraufhin brach sie das Gespräch abrupt ab, ging fort und ließ sich nicht wieder sehen.

Ich kam mir vor wie ein wehrloses Küken, das eben erst geschlüpft, von einem riesigen Geier aus der Luft aufs Korn genommen wurde – nackt, wehrlos, ausgeliefert.

Zwei dicke Glastüren trennten mich von Deiner Mutter.

Ich konnte jedoch alles hören, was dahinter vor sich ging und möchte versuchen, die Sätze und Erlebnisse zu rekapitulieren, die meine Erinnerung noch hergeben.

Deine Mutter hatte schon starke Wehen. Ich hörte, wie sie ihrem Schmerz Raum gab, wie sie herausschrie, was sich da in ihr zu stauen drohte.

Die Hebamme, die Ärztin und eine weitere Schwester bearbeiteten Deine Mutter zugleich – hektisch, gereizt und ohne Achtung vor der Persönlichkeit.

Ich hörte wie die Hebamme sie anschrie, währenddessen die Ärztin damit beschäftigt war, unablässig irgendwelche Fragen zu irgendeinem Fragebogen zu stellen.

Das klang in der Reihenfolge etwa so:

Atmen Sie jetzt tief ein!

Was hatten Sie für Krankheiten, Frau Clausnitzer?

Sie sollen tief einatmen, hab´ ich gesagt!

Hören sie nicht?

Frau Clausnitzer, welcher Konfession gehören Sie an?

Reißen Sie sich doch zusammen! Was ist denn das für ein Theater mit Ihnen!

Wenn sollen wir bei eventuellen Vorkommnissen benachrichtigen, Frau Clausnitzer?

Sie sollen endlich ruhig atmen! Hören Sie?

Sie schaden so Ihrem Kind viel mehr, als mit irgendwelchen Dingen vielleicht, die Ihnen beim Geburtsablauf nicht passen!

Das ist wie mit den Grünen. Immer nur groß herumreden und dann ihr Zeug in die Botanik kippen!

Frau Clausnitzer, welcher Krankenkasse gehören Sie an?

Schreien Sie nicht so herum! Also jetzt reicht es langsam! Wir machen doch hier keine Schauvorführung! Haben Sie in letzter Zeit regelmäßig Medikamente genommen, und wenn ja , welche? Reißen Sie sich endlich zusammen! Ruhig einatmen und ausatmen! Verstanden!

Dieses schreckliche Drama ging in dieser Art noch weiter. Es war kaum noch mit anzuhören. Je heftiger sie Deine Mutter anschrien, um so nervöser und unruhiger wurde sie. Ihre Angst war jetzt grenzenlos.

Doch statt ihr zu erklären, was mit ihr in diesem Augenblick geschah, statt ihr zu sagen, daß alles ganz normal und unkompliziert verlief, bombardierte die Ärztin sie wie im Kreuzverhör mit teilnahmslosen, bürokratischen Fragen, schrie sie die Hebamme unablässig an, was sie gerade falsch mache. Es war eine Idiotie ohnegleichen.

Dann brachten sie Deine Mutter weg, und ich hörte nichts mehr von ihr.

Irgendwann, ich wußte nicht , wieviel Zeit vergangen war, hörte ich ganz entfernt ein Baby schreien – drei- bis viermal – schrill und furchterregend.

Wenig später sollte ich erfahren, daß dies Deine ersten Töne auf dieser Welt waren.

Es waren keine glücklichen Schreie, keine stolzen Ausrufe: „Seht her, ich bin da!“ oder „Endlich, ich bin frei!“ Es waren bittere Anklagen gegen diese Welt, in die sie Dich geworfen hatten:

Friß oder stirb!

Leben oder Tod!

Schreie oder ersticke!

Keine Alternative. Keine Wahl. Nicht einmal die Illusion einer Wahl.

Sie hatten Dir die Nabelschnur durchgehauen, als Du noch gar nicht begriffen hattest, was mit Dir geschehen war.

Sie hatten Dich von Deiner Mutter gewaltsam getrennt, fern von ihrem vertrauten Körper, fortgerissen, als Du noch keine Orientierung hattest.

Sie haben Dir nicht die Zeit gelassen, Dich zu orientieren, weil sie jetzt selbst keine Zeit mehr haben für ihre Orientierung. Die Hetzjagd Deines Lebens hatte begonnen.

Mein kleiner Sohn, ich werde versuchen, Dir ein guter Vater zu sein, werde versuchen, das Nichtwiedergutzumachende zumindest zu mildern.

Ich werde versuchen, Deine Uhr zu verlangsamen.

Zu glauben, sie nun noch anhalten zu können, wäre Illusion.

Ich möchte versuchen, Dir so viel von meiner Zeit zu schenken, daß Du es für Dich kompensieren kannst, irgendwie … Du wirst sehen, wir werden es schaffen!

Abgesehen davon, hast Du sie ja doch alle ausgetrickst.

Hast ihnen Zeit gestohlen. Zeit für ihre zwanghaften technischen Sehnsüchte. Du hast ihnen keine Zeit mehr gelassen für Beruhigungsmittel, Tropf, Wehenschreiber, Kopfelektroden, Meßgeräte, Überwachungsgeräte, Vertrauensersatzgeräte …

Du hast ihnen ein Schnippchen geschlagen, und darauf bin ich stolz.

Ich bin sehr stolz auf Dich und Deine Mutter, die so viel Kraft und Energie hatte, Dich großen Brocken innerhalb einer ¾ Stunde in der Klinik zur Welt zu bringen – ohne Komplikationen, ohne Schneiden, ohne Risiko – sicher für Deine seelische Gesundheit, hätte das Personal dieser Klinik unsere Wünsche akzeptiert.

Und wie wenig hätte doch da dazugehört. Und wieviel hätte man doch damit ausrichten können!

Es tut mir leid, mein Kind. Damit müssen wir in dieser Gesellschaft leben. Damit müssen wir fertig werden. Dagegen können wir uns aber auch auflehnen! Wir werden Wege finden. Gemeinsam schaffen wir es! Sie haben dauernd versucht, Deiner Mutter einzureden, sie wäre schlecht. Sie haben dauernd genörgelt. Sie haben sie gegängelt. Sie konnten ihre Schreie nicht ertragen, weil sie selbst nicht mehr aufschreien können. Weil sie selbst bereits so abgestumpft sind, daß sie sich und anderen keinen Schmerz mehr erlauben. Sie trachten ständig danach, den Schmerz zu betäuben.

Aber Deine Mutter war gut.

Sie war so gut, wie sie nur sein konnte.

Sie war voller Kraft und Energie.

Sie hat Dich mit ihrer ganzen Liebe und Energie herausbegleitet, bevor sie Dich ihr entrissen haben.

Sie hat alles gegeben, was sie in diesem Augenblick hatte.

Mehr war nicht zu tun.

Als mich nach einigem Drängen die Hebamme dann endlich zu Euch ließ, lagt Ihr, getrennt voneinander, in verschiedenen Räumen – getrennt durch eine Wand und eine Tür.

Ich fragte die anwesende Schwester, warum Du nicht bei Deiner Mutter sein durftest, und sie erklärte mir, daß Du jetzt viel Wärme brauchtest, daß dies im Augenblick das Wichtigste wäre für Dich.

Sie hatten Dich in derbe Babysachen gewickelt und unter einen Wärmeapparat gelegt, der sein grelles, weißes Licht und eine ungeheure Hitze unbarmherzig herunterwarf.

Was wußten sie schon davon, was Du in diesem Augenblick am dringendsten brauchtest?

Dieses grelle, blendende Licht etwa, das Deinen kleinen Körper in ein feuerrotes, strahlendes Bündel verwandelte?

Was bildeten sie sich ein, zu wissen?

Waren sie Gott?

Sie waren Roboter, die ihre Technik vergötterten. Sie waren Geburtshelfer, die einer Babyeinheit eine definierte Dosis Wärmestrahlung verabreichen konnten.

Das hatten sie gelernt … in drei Jahren Schwesternausbildung, während ihres sechsjährigen Medizinstudiums, bei Promotionsverfahren und unzähligen Lehrgängen.

Sie wußten, welche Dosis, welcher Apparat, wieviel von jedem und wann.

Über das Warum nachzudenken, hatten sie nie gelernt.

Und Deine Mutter lag im Nebenraum – gesund, lächelnd, glücklich, warm … voller überfließender Liebe.

Dann kam der Augenblick, der alle diese Feindseligkeiten, die Gleichgültigkeit und Intoleranz schlagartig ins Abseits schob.

Ich sprach Dich leise an, begrüßte Dich und bemerkte eine kleine Welle über Dein Gesicht plätschern.

Ich erzählte Dir von diesem Tag, von Deiner Mutter und von mir, von der Geburt und dieser Klinik, in der Du gerade lagst.

Ich sprach Dir Mut zu, und plötzlich – ganz unverhofft und trotz des erbarmungslosen, gleißenden Lichtes – öffneten sich Deine Augen einen winzigen Spalt. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, und die Welle verwandelte sich in ein sanftes Lächeln.

Können Neugeborene lächeln?

Es traf mich wie eine Sturmflut, wie ein Orkan aus heiterem Himmel.

Dieses zerbrechliche, unter Schmerzen geborene, leise Lächeln, war die gewaltigste Liebeserklärung der Welt.

Wir beide, Du und ich, hatten Freundschaft geschlossen. Uns konnte nun nichts mehr passieren, denn wir waren Freunde – und Freunde sind stark.

Dann ging ich wieder ans Bett Deiner Mutter ins Nebenzimmer. Sie wirkte sehr entspannt, gelöst und erleichtert.

Die Wogen hatten sich geglättet, und Ruhe war in sie eingezogen. Sie verstrahlte ein ganz besonderes Licht. Sie war Mutter.

Erst jetzt fiel mir ein, daß ich noch gar nicht wußte, ob Du ein Junge oder ein Mädchen warst.

Deine Mutter lächelte nur, und verriet mir dann Deinen Namen. Wir waren beide sehr glücklich.

Doch schon trieb es mich wieder zu Dir dort hinter der Wand. Ich mußte Dir einfach von Bastion erzählen – dem kleinen Jungen aus der Unendlichen Geschichte, der die Welt Fantasiens vor dem Nichts retten mußte … vor dem Nichts – wie seltsam aktuell für uns in diesem Augenblick, an diesem Ort das war!

Aber Du warst in der Zwischenzeit schon wieder eingeschlafen – überwältigt von den Ereignissen, bedroht von den fremden, unnatürlichen Eindrücken …

Wenig später wurde ich dann nach Hause geschickt. Es war mittlerweile morgens halb vier, und es wurde schon langsam hell. Die ersten Vögel begannen ihr Morgenlied zu singen, und das Gewitter war im Abklingen.

 

aus ICH 5/ 91