Gaia – die Erde ist ein Lebewesen. Ansichten eines Geowissenschaftlers

von James E. Lovelock

Das Leben auf der Erde existiert seit mindestens 3,6 Milliarden Jahren. In dieser Zeit hat die Leuchtkraft unserer Sonne um ein Viertel zugenommen. Die Zusammensetzung der Atmosphäre hat sich grundlegend verändert. Unzählige Meteoriteneinschläge – manche mit einer größeren Sprengwirkung, als die sämtlicher heutiger Atombomben – haben wahrscheinlich bis zu sechzig Prozent aller Lebewesen getötet. Aber das Leben hat überlebt.

James Lovelock, Professor an den Universitäten Yale und Harvard, Berater für Bio-Wissenschaften beim US-Raumfahrtprogramm, hält das nicht für einen Zufall.

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Daß ein Planet zum Arzt geht, ist eine kuriose Vorstellung. Dazu müßte der Planet, in diesem Fall die Erde, krank werden und also in irgendeinem Sinne lebendig sein. Und es müßte vor allem ein geeigneter Arzt dasein, ein Arzt mit Wissen und Erfahrung auf dem Gebiet der Planetenleiden, der kompetenten Rat geben könnte. Ein Arzt also, der in Planetenheilkunde ausgebildet ist.

Vielleicht können Sie sich dieses hypothetische Check-up der Erde leichter vorstellen, wenn Sie einmal an Ihren letzten Anfall von Hypochondrie zurückdenken, bei dem Sie sich schon als Opfer einer todbringenden, aber natürlich eingebildeten Krankheit sahen. Das geschieht häufig, wenn wir einen medizinischen Artikel lesen und unsere Bagatellsymptome in den dort beschriebenen wiedererkennen.

In den wohlhabenden Gegenden der Erde macht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine ähnliche Erfahrung durch. Nur bezieht die Hypochondrie sich hier auf die ganze Welt und nicht auf das individuelle Ich. Den medizinischen Artikeln entspricht hier die stetig wachsende Flut von Weltuntergangsszenarien. Es besteht kein Mangel an weltweiten Symptomen, die zu hypochondrischer Übersteigerung Anlaß geben können: Die Nuklearwinter-Erkältung, das Treibhausfieber, das Sauerregen-Bauchweh und die Ozonflecken. Natürlich sind das reale Probleme, aber wie bei der gewöhnlichen Hypochondrie wissen wir nicht, ob solche Symptome Vorboten des Unheils oder harmlose Kinderkrankheiten der Erde sind.

Intelligente Hypochonder gehen mit ihren Weh-wehchen nicht zum Biochemiker oder Molekularbiologen, sondern zu ihrem Hausarzt. Ein guter Arzt weiß, daß Hypochondrie häufig eine tatsächliche Erkrankung verdeckt, die aber von anderer Art ist, als die eingebildete. Könnte also unsere tiefe hypochondrische Besorgnis um die Verfassung der globalen Umwelt eine echte Krankheit unseres Planeten verdecken? Wie könnten wir das herausfinden, und wo sollen wir Rat suchen?

Denn wie auch ein Mikrobiologe in Verlegenheit kommen könnte, wenn er eine gewöhnliche Erkältung kurieren sollte, so könnte es sein, daß das eigentliche Leiden der Erde von den Spezialisten, etwa den Klimatologen und Geochemikern, nicht erkannt wird. Ist es dann klug, nur den Rat solcher Experten einzuholen? Vielleicht haben wir einstweilen keine andere Wahl, weil es soetwas wie eine Erdheilkunde noch nicht gibt. Was können wir also zu ihrer Entwicklung unternehmen? Welcher Mittel und Methoden würde sie sich bedienen? Welche Qualifikationen müßten die Ausübenden dieser Heilkunst besitzen? Und wie sieht ihre wissenschaftliche Grundlage aus?

Wenn wir uns an der Geschichte der Humanmedizin orientieren, dann wird die Erdheilkunde aus Mutmaßungen und Erfahrungen erwachsen, aus praktischen Lösungen für unmittelbare Probleme, aus gesundem Menschenverstand und Hygiene. Und ihre wissenschaftliche Grundlage wird die Physiologie sein, Systemwissenschaft lebendiger Organismen – hier also die Geophysiologie, die Systemwissenschaft der Erde.

James Hutton (1726-1797), Vater der wissenschaftlichen Geologie, sah im Wasserkreislauf der Erde eine Analogie zum Blutkreislauf und nannte die Erde einen Superorganismus, der eigentlich über die Physiologie – damals wie heute Grundgerüst der Medizin – erforscht werden müsse.

Hutton war ein Universalgelehrter, zu dessen wissenschaftlichen Fachgebieten auch die Medizin gehörte. So war es kein Wunder, daß er – wie eine weise alte Schleiereule, die über einer Wiese schwebt – die Erde aus der Vogelperspektive betrachtete, mit einem das Ganze erfassenden, physiologischen Blick. Für die meisten heutigen Naturwissenschaftler jedoch widerspricht Huttons Sicht der Erde als Superorganismus der herkömmlichen Betrachtungsweise. Die jüngeren Spezialwissenschaften, sei es Mikrobiologie oder Biogeochemie, betrachten die Details und Prozesse ihres Gegenstandsbereichs aus einer eingeengten, reduktionistischen Sichtweise, aus der Froschperspektive. Sie erkennen zwar, daß alles Lebendige seine Umwelt beeinflußt und sich seiner Umwelt anpaßt, aber sie haben Huttons Fähigkeit zur Gesamtschau verloren, in der das Leben und seine materielle Umwelt ein einziges System bilden. 

Wer ist Gaia?

Bevor ich auf die Praxis der Erdheilkunde näher eingehe, muß ich Gaia vorstellen, die Patientin, um die der Arzt sich zu kümmern haben wird. Gaia, Huttons Superorganismus im modernen Gewand, ist die Erde als ein durchgängiges physiologisches System, eine Entität, die zumindest in dem Sinne lebendig ist, als sie wie jeder biologische Organismus ihren Stoffwechsel und ihre Temperatur selbst regelt und in den mehr oder weniger engen Grenzen hält, in denen das Leben bestehen kann.

Ich beschreibe Gaia als Steuerungssystem der Erde – ein selbstregulierendes System, dem Thermostaten eines Bügeleisens oder Backofens nicht unähnlich. Gaia ist ein evolvierendes System, bestehend aus allem Lebendigen und seiner Oberflächenumwelt, den Meeren, der Atmosphäre, dem Krustengestein … In diesem System geschieht die Regulation von Klima und chemischer Zusammensetzung völlig selbsttätig. Die Selbstregulation bildet sich mit der Evolution des Systems heraus. Es bedarf also zu ihrer Erklärung keiner teleologischen Annahmen, keiner Mutmaßungen über Absichten und Pläne der Natur.

Mir ist klar, daß die Betrachtung der Erde als so etwas wie ein Lebewesen nur eine praktische und bequeme Art ist, unser Faktenwissen über die Erde in einen stimmigen Gesamtzusammenhang zu bringen. Ich bin natürlich für Gaia eingenommen; schließlich habe ich mich die letzten fünfundzwanzig Jahre hauptsächlich mit dem Gedanken beschäftigt, die Erde könnte in gewisser Weise lebendig sein – wenn auch nicht in der Weise, wie die Alten sie sahen, als vorausschauende und ein bestimmtes Ziel anstrebende Göttin, sondern eher wie ein Baum. Ein Baum bewegt sich nicht von der Stelle und steht doch unaufhörlich im Austausch mit Himmel und Erde. Licht, Wasser und Nährstoffe nutzend, wächst er und verändert sich, doch so unmerklich, daß die alte Eiche auf dem Anger für mich heute noch dieselbe ist wie in meiner Kindheit.

Die Notwendigkeit einer Medizin für die ganze Erde

Manchmal fragen besorgte und bekümmerte Umweltschützer, ob die Menschen die Leukämie der Erde geworden sind. Sind wir ein Organismus, der mit der großen Lebensgemeinschaft von Eden oder Gaia gebrochen hat? Vermehren wir uns jetzt ungehemmt, bis wir durch unsere schiere Zahl und unsere Stoffwechselgifte den gesamten Körper der Erde gefährden? Es mag so aussehen, aber leukämische Zellen haben kein schlechtes Gewissen und denken nicht daran, ihre Vermehrung irgendwie zu steuern. Es stimmt, daß unsere Gegenwart die Landoberfläche und die Atmosphäre bereits nachteilig verändert hat. Wenn wir glauben, daß dies eine weltweite Krankheit ist, dann brauchen wir jetzt medizinischen Rat für die ganze Erde, praktische Ratschläge für die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes. Wir können nicht abwarten, bis irgendein großangelegtes Forschungsprogramm das Heilmittel findet, dazu bleibt keine Zeit.

1985, bei einer Konferenz in Brasilien, fragte ich die Klimatologen, was bei gleichbleibender Abholzungsgeschwindigkeit der Amazonaswälder früher zu erwarten sei: die völlige Vernichtung der Wälder oder die Entwicklung eines wissenschaftlichen Modells, das exakte Voraussagen über die Klimaverhältnisse in der Region nach der totalen Rodung erlauben würde. Sie antworteten, die Bäume wären längst weg, bevor sie eine Antwort geben könnten. Die Naturwissenschaft ist nicht etwa völlig untauglich, sondern auf lange Sicht sogar unentbehrlich; aber einstweilen hat sie noch die falsche Stoßrichtung und reagiert viel zu langsam.

Denken wir etwa an das Problem der Treibhausgase. Die moderne Naturwissenschaft kann mit ihrem ganzen gewaltigen Instrumentarium nicht mal für ein paar Jahre voraussagen, welche Folgen die weitere Konzentration von Kohlendioxid, Methan und anderen Gasen in der Atmosphäre haben wird. Aber der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß eine weitere Anreicherung der Luft mit diesen Gasen vermutlich katastrophale Folgen haben wird. Wenn wir wie bisher weitermachen, wird sich die Kohlendioxidkonzentration vom normalen zwischeneiszeitlichen Niveau von 280 Teilen pro Million (ppm) bis zum Jahr 2000 auf 400 ppm erhöhen. Bei den anderen Treibhausgasen wird es ähnlich aussehen, zum Beispiel Methan von 700 auf 2.000 Teile pro Milliarde (ppb). Diese vom Menschen erzeugten Anstiege sind größer als die natürlichen Anstiege zwischen der letzten Eiszeit und der darauf folgenden Warmzeit. Wie weit Temperatur und mittlere Meereshöhe bis zum Jahr 2000 steigen werden, kann man nur vermuten, aber die Wissenschaftler sind sich einigermaßen sicher, daß die Methan- und Kohlendioxidkonzentration bis zu den genannten Werten steigen werden.

Was auch immer wir in den Jahren bis zu diesem Datum noch unternehmen mögen, es ändert nichts mehr an dieser Konzentrationszunahme. Es stehen uns nun die Folgen dessen ins Haus, was wir der Erde schon angetan haben.

Ich denke, wir sollten dem Beispiel unserer Vorfahren folgen und das tun, was sie angesichts unhaltbarer Zustände taten: Unseren Verstand benutzen und den empirischen Ansatz wählen. Man muß nicht unbedingt wissenschaftlich alles richtig durchschaut haben, um zu guten Resultaten zu kommen. Nehmen wir etwa die Römer. Sie wußten, daß das Leben in Feuchtgebieten ungesund ist. Sie dachten, Krankheiten werden durch schlechte Ausdünstungen verursacht, und legten die Sümpfe trocken. Und tatsächlich, die Krankheit, Malaria, wich. Hätten sie statt dessen Geld in die insektenkundliche und mikrobiologische Forschung gesteckt, so hätten sie vielleicht irgendwann den Malariaparasiten entdeckt und auch erkannt, daß er von Mücken übertragen wird. Aber bis dahin wären noch viele Menschen gestorben oder hätten ein reduziertes Leben führen müssen – und die Schlußfolgerung aus der wissenschaftlichen Erkenntnis wäre keine andere gewesen als die mit dem Laienverstand gezogene: die Sümpfe trockenlegen.

Diesen pragmatischen Ansatz brauchen wir jetzt auch, wenn wir den Leiden des ganzen Planeten noch rechtzeitig begegnen wollen. Wir brauchen eine Erheilkunde. Ihr Ansatz wird ein empirischer, manchmal vielleicht sogar unwissenschaftlicher sein, aber wir haben keinen anderen. Ich fordere keine alternative Wissenschaft nach dem Vorbild etwa der alternativen Medizin. Ich glaube an die Wissenschaft. Ich glaube aber auch, daß die Hauptströmung der Wissenschaft sich zu weit von ihrem natürlichen Lauf entfernt hat, und ich würde gerne aus der „Big Science“ und ihrem aufgeblähten Macho-Gehabe ein bißchen Luft heraus lassen. Wie sollte man sie sonst dazu bringen, sich anzuhören, was ich über die Medizin der ganzen Erde zu sagen habe? Wenn die Naturwissenschaftler den Wert der Empirie in den kommenden schwierigen Zeiten erkennen sollen, müssen sie sich zuerst das Ausmaß ihres Unwissens klarmachen.

Planetenmedizin

Wenn wir uns die Erde als einen Organismus vorstellen, der gesund oder krank sein kann, dann wird Gaia vielleicht in dieser Konstellation globaler Krankheitserscheinungen erkennbar, und wir sehen klarer, was mit planetarer Medizin gemeint ist. Durch das Studium des Pathologischen erfahren wir etwas über die Natur der Krankheit und die Möglichkeiten, sie zu heilen oder zu verhindern. Wir vergegenwärtigen uns das Abnorme, um den viel schwerer zu beschreibenden Normalzustand des Gesundseins erfassen zu können.

Sollte unser Vorhandensein tatsächlich eine Bedrohung für die Erde darstellen, dann befinden wir uns in der ungewöhnlichen Lage, sowohl die Urheber der Krankheit als auch die Beobachter ihrer Auswirkungen zu sein. Das Krankheitsgeschehen ist ein guter Hintergrund für tiefe Fragen wie etwa: Sind wir Gottes Auserwählte oder eine Seuche der Erde? Es bedarf allerdings keiner Werturteile oder gar Verurteilungen; sogar bei uns selbst ist ein wenig Kranksein der Weg zur Gesundheit. Denken wir nur an die vielen Kinderkrankheiten, relativ harmlose Infektionen, die uns vor dem Risiko einer Ansteckung im späteren Leben schützen. Auch im größeren Maßstab kann eine Seuche, die eine ganze Spezies zum Großteil ausrottet, eine Katastrophe oder geradezu ein Geschenk sein. Die Pathologie des Irrtums ist grundlegend für die Evolution durch natürliche Auslese. Durch Irrtum und Veränderung schreitet die Evolution voran. Der Zufall bringt den glücklichen Irrtum, der einem Organismus erlaubt, eine neue Nische zu besetzen, einen neuen Lebensraum zu finden. Im übrigen ist es eine von Gaias Regeln, daß Organismen, die ihre Umwelt schädigen, nicht lange überleben. Diese Regel sollten wir uns ganz bewußt machen, denn sie könnte ja fatale Auswirkungen haben für unsere Spezies. Zum Glück entwickeln wir uns persönlich auch entlang eines Weges von Irrtümern und Korrekturen: Wir sind lernfähig. Und der beste Lehrmeister ist immer das, was haarscharf danebengeht.

Das grüne Leben auf Gaia muß keineswegs etwas mit grämlichen Puritanismus zu tun haben. Wenn wir uns als Teil eines gigantischen Organismus verstehen oder sogar als Ursache seines Bauchwehs, dann finden wir vielleicht zu einer Lebensweise auf Gaia, die angemessen und gesund ist. Dieser Gedanke allein schon ist ein gutes Mittel gegen die fatalistische Haltung, die Erde sei ein toter Himmelskörper und nur Träger des Lebens.

Die Menschenplage

Nun möchte ich den heutigen Zustand der Erde mit den Augen eines Planetenarztes darstellen. Wir setzen noch einmal voraus, daß die Erde eine Patientin ist, die eine kosmische Klinik besucht: Zeit für ein Check-up in der Mitte des Lebens. Die Ärzte sehen einen Planeten mittleren Alters, scheinbar in guter Gesundheit. Doch die Berichte des Pathologen und des Dermatologen sprechen von ungewöhnlichen Symptomen. Der Kohlendioxid- und der Methananteil der Luft liegt über dem normalen Wert, und es besteht Verdacht auf Fieber. Einige Hautschäden sind deutlich zu sehen, denn das Festland zeigt mehrere nackte Stellen. Besonders aufschlußreich sind abnormale Stoffe in der Luft, die FCKW, die auf keinen Fall von der natürlichen Physiologie der Lebewesen stammen. Für den Arzt sind FCKW in der Luft mit einem Anteil von 1 ppb Anzeichen für das Vorhandensein einer hochorganisierten sozialen Art, die über eine fortgeschrittene chemische Industrie verfügt.

Der Arzt weiß, daß belebte Planeten mittleren Alters die Fähigkeit zur Entwicklung intelligenter Arten besitzen und daß das Vorhandensein solcher Organismen auf eine potentielle oder bereits ausgebrochene Krankheit hindeutet. Es können Schäden auftreten, aber fatale Folgen hat es fast nie. Die Krankheit kann sich sogar zum Nutzen das Planeten auswirken.

Die Menschen auf der Erde verhalten sich wie krankheitsauslösende Mikroorganismen oder neoplastische Krebszellen. Durch unsere hohe Zahl und die damit verbundene Störung wirken wir spürbar hinderlich, wie eine Krankheit. Wie bei einer Krankheit des Menschen gibt es vier Möglichkeiten: Zerstörung des Krankheitserregers; chronische Infektion; Zerstörung des Wirts; Symbiose, also eine Beziehung zwischen Wirt und Eindringling zu beiderlei Nutzen.

Wenn Mikroorganismen oder Tumorzellen vernunftbegabt wären, würden sie merken, daß die langfristige Zukunft im vierten Zustand liegt, in der Symbiose, einer Art bindenden Vertrag zwischen zwei Partnern. Im Inneren unseres Körpers gibt es viele solche Verträge mit Mikroorganismen. Beispiele finden wir bei den Bakteriengemeinschaften in unserem Mund und im Darm. Auch diese Lebewesen waren möglicherweise vor langer Zeit unerwünschte Gäste. Heute verteidigen sie ihr Territorium und halten weniger erwünschte Eindringlinge fern, sie helfen sogar mit, unsere Nahrung besser zu verdauen.

Die Präzedenzfälle für dauerhafte Verträge dieser Art sind so überzeugend, daß wir als intelligente Art das Programm für die Zukunft schon in Händen halten. Offensichtlich brauchen wir nur den Willen, um den richtigen Weg zu gehen. Wir besitzen allerdings einige Eigenschaften, die es uns schwermachen, zu einer Symbiose mit Gaia zu gelangen.

Wir leben weder als freie und unabhängige Individuen noch als völlig integrierte soziale Organismen wie etwa die Honigbiene. Am ehesten kann man sagen, daß wir in Stämmen oder Gruppen leben, und unser Stammesverhalten ist oft weit unter dem Standard der besten Vertreter unserer Art. Als Individuen mögen wir intelligent sein, doch als soziale Kollektive verhalten wir uns meist flegelhaft und ignorant. Ich glaube, daß unsere Unfähigkeit, mit unseren Mitmenschen und mit der Erde in Harmonie zu leben, auf diese Unvereinbarkeit zurückgeht: Es klafft ein tiefer Graben zwischen dem Handlungsvermögen unserer menschlichen Kollektive und der geringen Intelligenz, die diese Handlungen leitet.

Als Individuen oder als kleine Gruppen von Jägern und Sammlern lebten wir einst in Symbiose mit unserem Planeten. Als wir Feuer und Werkzeug gebrauchten und zur Landwirtschaft übergingen, wurden wir sozial stärker voneinander abhängig, gleichzeitig auch mächtiger und zahlreicher. Nun konnten wir unsere eigene Umwelt auf Kosten der Erde aufrechterhalten; damit brachen wir den Vertrag mit Gaia. Zunächst waren die Vertragsverletzungen gering, indem wir uns zum Beispiel Kleider anzogen und Häuser bauten. Dann begannen wir mit der Haustierhaltung und bauten die beliebtesten Nährpflanzen an. Doch bis zu Beginn dieses Jahrhunderts war keine dieser Entwicklungen, auch nicht die Industriekultur, in sich bedeutsam oder bedrohlich für den Planeten. Die Gefahr lag im Potential für weiteres Wachstum und weitere Entwicklung. Heute ist die Zahl der Menschen sehr stark angestiegen, und wir haben die Möglichkeit, das restliche Leben auf dem Planeten auszulöschen.

Das Wachstum einer Population erfolgreicher Organismen – im ersten Stadium, wenn genügend Nahrung vorhanden ist – verläuft oft exponentiell. Wenn Sie einen Mathematiker fragen, was dies bedeutet, so antwortet er Ihnen: „Ziemlich einfach: Exponentielles Wachstum bedeutet, daß die Zunahme proportional zur vorhandenen Individuenzahl ist.“ Das hört sich einfach an, doch sind die schrecklichem Folgen nur wenigen klar.

Um exponentielles Wachstum wirklich verstehen zu können, stellen wir uns einen Weiher vor, auf dessen Oberfläche eine Wasserlilie wächst. Jeden Tag verdoppelt sie ihre Blattoberfläche. Die Wasserlilie braucht 19 Tage, um die Hälfte der Weiheroberfläche mit Blättern zuzudecken. Wieviel Zeit wird nun vergehen, bis der Weiher ganz zugewachsen ist?

Kommt Ihnen die richtige Antwort sofort in den Sinn? Es sind nämlich nicht weitere 19 Tage, sondern nur ein Tag.

Und wenn der Weiher völlig zugewachsen ist, was dann? Das Wachstum einer natürlichen Population erfolgt niemals für alle Zeiten exponentiell. Man kann leicht berechnen, daß die Masse der Bakterien oder der Stubenfliegen bei exponentiellen Wachstum bald die der Erde übertreffen würde. Das wahre Wachstum bezeichnen wir als logistisch: Es erfolgt zunächst exponentiell. Dann nähert sich die Wachstumsrate dem Wert Null und behält diesen Gleichgewichtszustand bei. In der Praxis kann dies bedeuten, daß die Sterberate so ansteigt, daß sie der Geburtenrate entspricht, oder daß Faktoren aus der Umwelt die Populationsgröße begrenzen.

Wir Menschen sind jenem 19. Tag des Wasserlilienwachstums nahe, mindestens was die Bedeckung der Erdoberfläche mit Pflanzungen, Haustieren, Industrie, Dörfern und Städten anbelangt. Unser exponentielles Wachstum wird bald aufhören, weil wir die Voraussetzungen dafür selbst zerstören. Wie Thomas Malthus bereits im 19. Jahrhundert voraussah, vernichtet die Bevölkerung ihre eigenen Nahrungsquellen und ihre Umwelt und muß am Ende dezimiert werden – durch Hunger, Krankheit, Krieg oder Naturkatastrophen. Malthus wird recht behalten. Der Satz: „Es gibt keine Verschmutzung, nur Menschen“ trägt einen Kern schrecklicher Wahrheit in sich.

Die Umweltverschmutzung ist ein quantitatives Phänomen. Ursprünglich gab es keine Verschmutzung. Der Dung von Pflanzenfressern vergiftet nicht die Erde und bewirkt nicht, daß die Pflanzen zu wachsen aufhören. Er nährt sie vielmehr und läßt sie gedeihen. Aber der Dung von hundert Rindern, die ein übereifriger Bauer auf einem zu kleinen Stück Land hält, ist regelrechte Umweltverschmutzung und zerstört das Gras, von dem sich die Tiere eigentlich ernähren.

Keine der Umweltkatastrophen der heutigen Zeit – die Zerstörung der Regenwälder, die Verschmutzung des Meeres und des Festlandes, die Gefahr einer weltweiten Erwärmung, Ozonloch und saurer Regen – würde zu einem spürbaren Problem, wenn es auf der Welt nur 50 Millionen Menschen gäbe. Selbst bei einer Milliarde Menschen könnte man die Verschmutzung noch in Grenzen halten. Doch bei der heutigen Bevölkerungszahl – über 5 Milliarden – und bei der heutigen Lebensweise sind sie nicht mehr zu ertragen. Wenn sich nichts ändert, werden sie eine große Zahl von uns Menschen und andere Arten töten und den Planeten irreversibel verändern.

Als Kollektiv ist der Mensch heute so zahlreich, daß er eine ernsthafte Krankheit für den Planeten darstellt. Gaia leidet unter der Menschenplage.

In der Humanmedizin kommt der Tod nur selten von einer größeren Erkrankung allein. Wer durch eine Verletzung oder eine Infektion wie Polio gelähmt ist, stirbt nicht an der Lähmung, sondern an Lungenentzündung oder der Infektion der Harnwege. Diese sekundären Krankheiten können sich ausbreiten, weil die natürliche Funktion des Körpers durch die erste Krankheit beeinträchtigt ist. Nur wenige Menschen sterben an Altersschwäche allein. Und dennoch ist das Alter die hauptsächlichste Todesursache. Ähnliches gilt auch für die Erde. Wenn die Hauptkrankheit der Erde die Überbevölkerung und die heutige Lebensweise sind, so kommt doch die Gefahr nicht von der Präsenz der Menschen, sondern von der Störung der natürlichen Funktion durch ihre Tätigkeit.

Leben mit Gaia

Wenn wir akzeptieren, daß jeder Mensch eine begrenzte Lebensspanne hat und daß niemand jemals unsterblich sein kann, dann sollten wir uns ebenfalls vor Augen halten, daß auch unserer Art insgesamt nur eine begrenzte Dauer auf Erden beschieden ist. Statt dessen stellen wir uns in unserem Optimismus vor, wir könnten uns selbst und die Erde so „managen“, daß wir sogar mit verdoppelter Lebensspanne oder doppelt so hoher Population zurechtkommen. Wir nehmen dabei an, daß der Extrastreß, dem dann alle Ökosysteme der Erde unterliegen werden, schon irgendwie zu schaffen sein wird.

Ich glaube, daß ist der größte Fehler, den wir machen können. Denken Sie einmal daran, welchen Mißerfolg die Parolen von Freiheit und Wohlergehen aller in manchen Ländern hatten und haben. Trotz der modernen Medizin nimmt in vielen Ländern die Lebenserwartung und die Lebensqualität ab.

Betrachten wir auch uns selbst. Vielleicht hatte ein Leser das Unglück, daß bei einem Unfall seine Nieren geschädigt wurden. Das ist zwar nicht tödlich, doch können diese wundervollen intelligenten Filter nun ihre Aufgabe nicht mehr richtig erfüllen, nämlich den Salz- bzw. Elektrolythaushalt des Organismus zu regulieren. Ein solcher Patient kann überleben, sogar mit normaler Lebensführung. Doch muß er stets die aufgenommenen Salze und Wassermengen überwachen. Eine solche Belastung macht einem erst richtig klar, wie wunderbar ein gesunder Körper funktioniert. Mit geschädigten Nieren muß man die Rolle des Managers des eigenen Körpers selbst übernehmen. Das ist eine lebenslange Aufgabe, nicht schwierig zwar, aber doch so anstrengend, daß das Leben nie mehr völlig sorgenfrei ist. Eine Einladung zu vegetarischen Freunden wird bereits zu einem Problem des Salzhaushaltes, ebenso harte körperliche Arbeit oder ein schneller Lauf an einem heißen Tag.

Das Beispiel betrifft nur die Schädigung eines einzigen Systems. Wenn mehrere Organsysteme gleichzeitig beschädigt sind, dann ist man fast die ganze Zeit über beschäftigt, bewußt die eigenen Körperfunktionen zu regeln.

Diese Last, diese Sklaverei meine ich, wenn ich sage, daß es kein schlimmeres Schicksal für den Menschen gibt, als den eigenen Planeten so zu schädigen, daß er selber die Aufgabe des Management übernehmen muß, wenn er überhaupt überleben will.

Man denke einmal an die Aufgabe, eine entwickelte Industrienation so zu leiten, daß ein Gleichgewicht herrscht zwischen der Kohlendioxidemission durch Verbrennungsvorgänge und der Kohlendioxidaufnahme gepflanzter Bäume. Dabei müßte man die entgegengesetzten Interessen verschiedener Individuen und Gruppen der menschlichen Gesellschaft wahrnehmen und dem selbstsüchtigen Druck ihrer Lobbys widerstehen. Gleichzeitig müßte man mit den zufälligen Veränderungen in der Politik, der Wirtschaft und des Klimas fertig werden. Und das wäre nur der Anfang, denn es müßten ja auch die Inputs und Outputs aller Staaten dieser Erde ausgeglichen werden.

Ein Planetenarzt kann uns im Verhältnis zur Erde nur jene Liebe und gütige Nachsicht verschreiben, die gute Eltern ihren Kindern gegenüber an den Tag legen. Es gibt keine einfachen Heilmittel für die Krankheiten unserer Erde.

Das bedeutet keineswegs, daß wir und die Gesellschaft nichts für die Gesundheit der Erde tun können. Gute Eltern schaffen eine Umgebung, die ihren Kindern nicht schadet und die es ihnen möglich macht, Kraft für die Selbstheilung zu gewinnen.

Es gibt eine ganze Reihe einfacher Dinge, die jeder von uns tun kann, um besser mit Gaia zusammenzuleben. Wir können die Erde nicht „managen“, wir können nur unser eigenes Leben und unsere menschlichen Institutionen in den Griff bekommen. Die drei tödlichen Dinge für unseren Planeten sollten wir immer im Kopf behalten: Autos, Rinder und Motorsägen. Wir müssen dabei nicht fanatisch werden und fordern, daß sie alle von der Erde verschwinden. Das würde nicht funktionieren. Wir müssen nur an die alte physiologische Wahrheit denken, daß die Dosis das Gift ausmacht. Wir dürfen diese Dinge und andere, welche die Gesundheit von Gaia untergraben, nur mäßig nutzen.

Die Vorteile einer Mäßigung zeigen sich sofort von selbst. Um zum Beispiel Rindfleisch oder Milchprodukte zu erzeugen, braucht man zwanzigmal soviel Land wie für die entsprechende Menge Pflanzennahrung. Damit meine ich nun nicht, daß wir alle Vegetarier werden müssen. Doch halten wir uns einmal Afrika vor Augen. Wir wissen, daß dort oft Hungersnöte herrschen. Allein im Jahre 1991, zur Zeit, da ich dies schreibe, sollen der Organisation Oxfam zufolge dort 27 Millionen Menschen an Hunger sterben. Wenige begreifen jedoch, daß ein großer Teil dieser Katastrophe auf die Schädigung des Bodens durch nicht angepaßte Rinderhaltung zurückgeht. Die menschlichen und natürlichen Ökosysteme dieses unglücklichen Kontinents lösen sich bald auf. In Afrika ist nämlich nicht die Überbevölkerung mit Menschen das Hauptproblem, sondern die Überbevölkerung mit Rindern.

Es gibt bessere Wege, um mit der Erde zu leben. Die meisten sind persönlicher Art, und hier ist nicht der richtige Ort, um sie aufzuzählen. Sie erwarten hier sicher nicht Ratschläge für eine gesunde Feinschmeckerküche. Diese Dinge müssen Sie selber herausfinden. Es geht jedoch immer darum, die Ansprüche an die Erde zu mäßigen und sich dennoch des Lebens zu freuen. Ebensowenig zähle ich all die positiven Dinge auf, die Sie unternehmen können, angefangen vom Pflanzen von Bäumen bis zur Sauberhaltung der Umgebung, in der Sie leben und arbeiten.

Es gibt auch viele Ratschläge, wie menschliche Kollektive, etwa Regierungen oder Institutionen, handeln sollten, um die Umweltkrise zu bewältigen. Einige dieser Ratschläge sind im Prinzip gut. Natürlich sollten wir aufhören, Wälder zu roden. Wir sollten den Ausstoß verschmutzender Stoffe herabsetzen, Energie besser nutzen, weniger fossile Brennstoffe verbrennen, weniger schädliche landwirtschaftliche Methoden entwickeln und freiwillig die Geburtenzahlen und den Konsum begrenzen.

Da unser Denken noch zutiefst auf den Menschen zentriert ist, vor allem kurzfristige egoistische Vorteile berücksichtigt, unsere Kräfte überschätzt und eine erschreckende Ignoranz gegenüber den Vorgängen auf der Erde zeigt, möchte ich insbesondere vor unkluger medizinischer Behandlung oder sogar chirurgischen Eingriffen warnen. Es gibt zum Beispiel Vorschläge, die Ausbreitung der Treibhausgase durch Eingriffe in die Ozeane zu bremsen. Man denkt zum Beispiel an eine Stimulierung der Algen, so daß sie überflüssiges Kohlendioxid aus der Luft eliminieren. Die Rede ist von der Düngung der Meere durch eine Eisenchloridlösung mit Hilfe vo Supertankern. Die Experten, die auf diese Idee kamen, wollen Kohlendioxid aus der Luft eliminieren, so daß wir weiterhin so viele fossile Brennstoffe verheizen können, wie wir wollen. Das Modell könnte kurzfristig funktionieren, wäre aber genauso dumm, wie die Verabreichung von Schilddrüsenhormon zur Erhöhung der Stoffwechselrate, weil ein übergewichtiger Patient sein Verlangen nach Süßigkeiten und Hamburgern nicht mehr bremsen kann. Beide Verschreibungen – der Eisenchloridlösung wie des Schilddrüsenhormons – begreifen nicht, daß Gaia und der menschliche Patient selbstregelnde Systeme sind. Eine Kontrolle von außen durch einen Eingriff in einen Regelkreis bringt selten den gewünschten Erfolg, birgt aber das hohe Risiko gefährlicher und unvorhersehbarer Instabilität in sich.

Lassen Sie mich schließen mit einigen weiteren Gedanken über die gefährliche Illusion, daß wir Menschen das Raumschiff Erde selbst steuern.

Könnten wir mit vereinten Kräften unsere eigene Natur ändern und gute Verwalter, freundliche Gärtner werden, die Sorge tragen für alle Lebewesen dieses Planeten?

Ich glaube, daß bereits diese Frage viel Hybris verrät. Selbst beim Managment unserer selbst und unserer Institutionen haben wir kläglich versagt. Ich würde eher erwarten, daß eine Ziege als verantwortungsvolle Gärtnerin mehr Erfolg hat als wir Menschen.

Ich glaube, daß unsere Rolle nicht die des Verwalters oder Managers der Erde ist, sondern eher die einer gewerkschaftlichen Vertrauensperson. Wir wurden aufgrund unserer Intelligenz als Vertreter für die anderen gewählt, für das übrige Leben auf unserem Planeten. Unsere Gewerkschaft vertritt die Bakterien, die Pilze ebenso wie die Fische, Vögel und Säugetiere, die höheren und niederen Pflanzen auf dem Festland und im Wasser. Tatsächlich sind alle Lebewesen Mitglieder unserer Gewerkschaft, und sie sind wütend darüber, welche Freiheiten wir uns mit diesem Planeten und ihrer Existenz herausgenommen haben. Die Menschen sollten in Übereinstimmung mit den anderen Lebewesen leben und keinen Raubbau an ihnen und ihren Lebensräumen treiben. Ein Planetenarzt, der das Elend sieht, das wir diesen Lebewesen und uns selbst antun, würde uns ermahnen, mit der Erde in Partnerschaft zu leben. Sonst wird die restliche Schöpfung als Teil von Gaia die Erde unbewußt in Richtung auf einen neuen Zustand bewegen, bei dem wir Menschen nicht mehr länger willkommen sind.

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Wir bedanken für die freundliche Genehmigung des Scherz-Verlag, Bern, München, Wien, Auszüge aus James E. Lovelocks 1992 erschienenen Buch „Gaia – die Erde ist ein Lebewesen“, zu dem obigen Beitrag zusammenstellen zu dürfen.

 

aus ICH 2/ 95