„ … aber die Weltverbesserer kamen nicht weit.“ Aus Briefen

Eine wahrhaft gerechte, demokratische Gesellschaft – ist sie überhaupt möglich?! Manchmal hege ich diesbezüglich Zweifel, die durch die Entwicklung der letzten Monate noch verstärkt werden. Ich bin wohl ähnlich enttäuscht, traurig und von Zeit zu Zeit auch wütend wie seinerzeit Thomas Münzer, der erkennen mußte, daß mit Menschen, die nur mit dem Bauch denken, keine Revolution zu machen ist. Uns geht es doch heute ähnlich. Der stolze Ruf „Wir sind das Volk“ wird zunehmend übertönt durch den Ruf nach vollen Regalen – egal zu welchem Preis. Dabei waren bei allem Mangel unsere Regale – verglichen mit der Welt – wohl nicht so leer. Aber Stolz, Menschenwürde, das Denken an andere und die Freiheit der Andersdenkenden sind offensichtlich nicht mehr vordergründig. Und die, die daran festhalten, werden nicht selten mit Pfiffen bedacht, als intellektuelle Spinner abgetan. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik: Diese Menschen waren vor den Oktoberereignissen 89 eine Minderheit, und sie sind es bald wieder.

Petra Licht, Lehrerin, Münchengosserstädt

 

Es ist zu schade, daß unsere DDR-Entwicklung so stark von außen beeinflußt wurde. Ohne ,,Kohl-Einwirkung“ in diesem starken Maße – wie geschehen – wäre es bei uns offener vorangegangen. Diese Marktwirtschaft lenkt zum Teil stark von eigentlichen Problemen ab.

Ich meine, Anregung von außen ist gut. Zu sich selbst finden muß jeder selbst. Ich versuche, herauszufinden, warum ich es normal empfand, ständig den Leistungsstreß mitzumachen, das ganze Bildungssystem als normal und gut zu akzeptieren und warum ich mit vielen Ungerechtigkeiten und Unehrlichkeiten so selbstverständlich lebte. Wenn ich mir meiner eigenen Stellung in diesem Räderwerk nicht bewußt werde, kann ich schon gar nicht begreifen, daß mein soziales Umfeld vielleicht ähnlich reagierte, und – es ist mir unverständlich, wie so viele Unehrlichkeiten, Verbrechen, geschehen konnten, wie ich davon nichts wissen konnte. Ich bin in vielem fassungslos. Ich war viele Jahre in der Volksbildung tätig, versuchte das Kind als Mittelpunkt meiner Arbeit zu sehen. Das war gut so. Und dennoch – warum hasse ich jetzt mehr denn je diese gewesene Volksbildungsgesellschaft, die ja schon selber wie ein eigenes System wirkte?

Sabine Hammer, Potsdam

 

Im gegenwärtigen Umgestaltungschaos habe ich meinen Platz noch nicht gefunden, weil ich der Meinung bin – simpel formuliert -, daß ein neuer Mensch nicht automatisch entsteht, wenn sich die Gesellschaft erneuert. Die alten Erziehungsstrukturen bleiben bestehen, und wie sehr sie die Menschen festlegen, habe ich in den letzten Jahren immer wieder erfahren. Seit ich selbst zwei Kinder habe, beschäftige ich mich intensiv mit „Erziehungslektüre“ – stieß dabei auf die Bücher von Alice Miller (Der gemiedene Schlüssel, Drama des begabten Kindes, Du darfst nicht merken u. a.). Ihre Erkenntnisse waren für mich – wie wohl alle genialen Gedanken – so einleuchtend wie schlüssig und haben sich für mich stets bestätigt. Diese Bücher haben mich verändert, haben die Partnerschaft mit meinen Kindern und meinem Lebensgefährten wohltuend entspannt und stabilisiert.

Bisher konnte ich mit diesem Wissen nur einigen Freunden helfen – wobei helfen schon fast zuviel gesagt ist. Ich wäre sehr froh, wenn ich mehr tun könnte in diesem Sinne.

Katrin Laux, Fotografin, Dresden

 

Wirtschaftlich werden wir in wenigen Jahren auf die Beine kommen, aber die Beseitigung der Auswirkungen auf psychischem Gebiet, die durch die Politik der letzten Jahrzehnte entstanden, werden Generationen dauern.

Mir wurden jetzt Zusammenhänge für das zwangsläufige Scheitern meiner Ehe deutlich, an die ich trotz einer Selbstanalyse nie gedacht hätte. Alle Ersatzbefriedigungen anstelle der ausgelebten Bedürfnisse nach Lust, Liebe und Sexualität habe ich gesucht: Leistung, Ehre usw. Mir wurden von außen diese „Werte“ empfohlen, und ich nahm sie an. Grundsatz in meiner Ehe war, daß alles Körperliche unwichtig ist. Mich störte das weniger, ich hatte meine Befriedigung im Schreiben von Lehrbriefen und in der Arbeit. Wie naiv diese Einstellung war und wie tödlich für unsere Ehe, wurde mir jetzt klar.

Winfried Himmer, Fachschullehrer, Dresden

 

Wir sind in gesellschaftsrelevantem Maßstab von „schwarzer Pädagogik“ umgeben; es gelten Erziehungsnormen, die immer wieder gestörte gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren, und den psychisch gesunden Menschen gibt es faktisch nicht. Bestenfalls können wir uns auf den Weg zu psychischer Gesundheit begeben. Mit dem Nachdenken darüber, welche der herrschenden sozialen Werte dem Leben, dem Gesundwerden, dem Lebendigsein und welche dem Unterdrücken, dem Anpassen, der Entfremdung des Natürlichen dienen, damit wäre ein Anfang gemacht.

Sabine Stieler, Soziologin, Leipzig

 

Jetzt, nachdem ich durch die Therapie im Annehmen und Zulassen von Gefühlen Möglichkeiten sehe, mir klarer über mich und meine Beziehungen zu werden, bin ich noch stärker an Materialien und Möglichkeiten zur Durchsetzung der Psychoanalyse als gesellschaftliche Form, um an ein sinnerfülltes Leben zu kommen, interessiert. Der momentane Zustand unserer Gesellschaft, der von der Unfähigkeit des Miteinander geprägt ist und in dem der krankmachende Ruf nach Leistung und Leistungsprinzip als oberste gesellschaftliche Norm immer lauter wird, zwingt mich als Teil dieser Gesellschaft zum Handeln. Ich habe in der Therapie die Möglichkeit gespürt, mir über mich und meine Beziehungen klarzuwerden und halte daher die Verbreitung der Psychoanalyse für eine Form, diese Klarheit zu erreichen. Ich denke, darin besteht auch eine Chance für ein besseres Miteinander.

Udo Wieczorek, Hoyerswerda

 

Seit einigen Jahren fällt mir auf daß ein Ausbau von psychologischen Beratungsstellen für alle sozialen Schichten der Bevölkerung – einschließlich der Kinder – an der unmittelbaren Basis immer notwendiger wird. Das fängt beim Einrichten eines „Telefon des Vertrauens“ an und geht bis hin zu kleinen Kontaktstellen. Das Gesundheitswesen ist da sicherlich überlastet, und ich denke, daß dieses Aufgabenpaket auf viele Schultern gesellschaftlich Engagierter übertragen werden sollte. Die Kirche allein ist bestimmt ebenfalls überfordert. Auch sollten Berührungsängste zu solchen psychologischen Beratungsstellen u. ä. unter der Bevölkerung abgebaut werden.

Cornelia Hockarth, Bibliothekarin, Saalfeld

 

Wenn ich einen Vorschlag machen darf: Wollen wir nicht Materialien zur Selbsthilfe und für Selbsthilfegruppen zusammentragen? Bei uns in Guben (43.000 Einwohner) gibt es keine psychologische Betreuung mehr. Eine Neurologin kommt zweimal im Monat, und eine Schwester verteilt Pillen. Aber die Nervösen, Schlaflosen, die mit Kopfschmerzen, Magendrücken, bekommen keine Betreuung. Ich selber habe mich mittels Yoga-Gymnastik und autogenem Training von endogenem Ekzem und Migräne befreit. Das ist doch billiger und ökologischer als die Pillen – vorausgesetzt, es hat psychische Ursachen.

Karen Truschzinski, Dolmetscherin, Guben

 

Selbsterkenntnis ist gut, aber man kann sie nicht verordnen. Von allein kommen aber nicht sehr viele darauf – und darin sehe ich die Gefahr. Ich würde sagen, wir kommen zur Zeit nicht unbedingt vom Regen in die Traufe, aber in den nächsten Regen bestimmt. Ideale habe ich viele – es ist die Frage, ob sie mit uns Menschen, wie wir sind, zu verwirklichen sind. Letztes Jahr hatte ich die Hoffnung, daß wir vielleicht einen besseren Weg finden, aber die „Weltverbesserer“ kamen nicht weit. Der Materialismus (sprich Geld und Wohlstand) siegte, und es ging wieder in vorgedachte Richtungen. Ich habe mir damals gewünscht, hier weg zu gehen, irgendwohin, wo man mit der Natur in Einklang leben kann (gibt es sowas noch?) und ich Zeit haben würde, viel Zeit, um alles zu verarbeiten und zu fragen ,,Was will ich?“ So eine Schonzeit hätte höchstwahrscheinlich der ganzen DDR gut getan – aber leider ist es nicht durchführbar.

Cornelia Wetzel, Eppendorf

 

 

aus ICH 1 und 2/ 90