Zur Kritik und Apologetik der Marktwirtschaft im Gesundheits- und Sozialwesen

von Ernst Luther

Auf 13 Billionen DM haben sich in der Bundesrepublik Deutschland privates Geld- und Immobilienvermögen im vergangenen Jahrzehnt angehäuft, davon 4,6 Billionen DM Geldvermögen. 5% der Reichen verfügen über etwa ein Drittel des Bruttogeldvermögens.

Die Entwicklung hat ergeben – wie eine vielgelesene Boulevardzeitung bereits am 27.7.1990 berichtete – daß ein gewisses Fräulein Quandt jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlägt, feststellen kann, daß sie wieder um 650.000 DM reicher geworden ist; denn das ist ihr täglicher Zinsgewinn. Andererseits haben Arbeits- und Obdachlosigkeit einen Rekordstand erreicht.

Die Fortsetzung dieses Kurses ist mit einer radikalen Durchsetzung der Marktwirtschaft im Gesundheits- und Sozialwesen verbunden und verlangt deshalb eine neue Ethik, genauer, die Monetik.

Bei dem Anliegen, Traditionslinien marktwirtschaftlicher Orientierung im Gesundheitswesen zu beleuchten, besteht das Kernproblem aber nicht darin, daß in diesem System marktwirtschaftliche Elemente existieren, sondern daß an der Schwelle zum 2. Jahrtausend offen ein Angriff gegen verbliebene Solidarprinzipien, gegen soziale Marktwirtschaft und sozialstaatliche Prinzipien vorgetragen wird.

Ein Vertreter dieses Angriffs ist der Konstanzer Mediziner H. Baier. Im Oktober 1996 schrieb er im Deutschen Ärzteblatt, er erwarte im Rahmen der „Globalisierung der Weltwirtschaft mitsamt der Marktmobilisierung, der Managementflexibilisierung und der Beschäftigtenqualifizierung der Unternehmen, die zunehmend Gesundheitsgüter anbieten müssen … Befreiungsschübe zu einem gesamteuropäischen Sozial- und Gesundheitsraum“. Die Gesellschaft bzw. der Staat sollen nach seiner Vorstellung von der „Erblast“ des Solidarprinzips entlastet werden: „Wir brauchen hierfür keinen Sozialstaat als Gesundheitsstaat, keine Zwangsorganisationen und keine Gesundheitsmonopolberufe, sondern Bürger mit Lebensfreude und Lebenssinn – freilich auch mit finanzieller Selbstverantwortlichkeit in den Krisen ihrer Lebenslagen.“

An der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert werden in Bezug auf die Traditionslinien im Gesundheitswesen wesentliche Veränderungen diskutiert. Einige dieser Veränderungen sind objektiv herangereift, bedingt durch Fortschritte in der Medizin, durch eine erhöhte Lebenserwartung, durch veränderte Lebensbedingungen und Lebensstile.

Im Mittelpunkt stehen neue Beziehungen zwischen den Professionellen im Gesundheits- und Sozialwesen einerseits (Ärzten, Schwestern usw.), den Patienten andererseits und dem Staat, bzw. gesellschaftlichen Institutionen. Das Problem ist, ob sich diese Beziehungen menschlich oder marktwirtschaftlich im Sinne des Neoliberalismus gestalten.

Im gegenwärtigen Diskurs um die Zukunft des Gesundheits- und Sozialwesens deuten sich zwei Veränderungen an:

  1. In der ärztlichen und pflegerischen Berufsauffassung geht es um die Verabschiedung vom Hippokratischen Eid oder anders ausgedrückt: Ärzte, Schwestern, Pfleger sollen sich zwar in ihrem ethischen Verständnis davon leiten lassen, daß in der Marktwirtschaft als ihre oberste Maxime das Wohl der Patienten gilt, aber realisieren sollen sie es als Anbieter von Gesundheitsleistungen.
  2. Den Wertewandel, der für die Patienten gedacht ist, hat Baier so formuliert, „daß der Bürger eines freiheits- und freiraumsichernden Staates aus eigenem Lebenssinn und mit eigenen Qualitätserwartungen den Gesundheitsmarkt ab- und nachfragt, also über die Souveränität als Kunde verfügt.“

Anbieter auf der einen Seite, Kunden auf der anderen, die Regulierung ihrer Beziehungen durch den Markt mit Angebot und Nachfrage, das ist die Lobpreisung und Vision für das 21. Jahrhundert, die in den verschiedensten Variationen als Lösung aus der Krise des Sozialstaates empfohlen wird.

Zwei Traditionslinien in der ärztlichen und pflegerischen Berufsauffassung

Bei der Betrachtung von Traditionslinien in der ärztlichen und pflegerischen Berufsauffassung sei an das Jahr 1869 erinnert, als mit der Einbeziehung der Heilberufe in die Gewerbeordnung die Grundrichtungen gelegt wurden. Mit dem 29.12.1869 waren die approbierten Ärzte und Zahnärzte von den überlieferten Eidesverpflichtungen befreit, die eine unmittelbare Unterwerfung unter die feudale Polizeigewalt sicherten und zugleich die eigene ärztliche Verantwortung für eine begründete Therapie versperrten.

Sie erreichten weiterhin die Freizügigkeit und Freiheit der Niederlassung sowie die Abschaffung der unwürdigen Bestimmungen in der preußischen Gebührenordnung. Für die Pflegeberufe gab es zwar bestimmte Einschränkungen aber die Idee des „freien Berufes“ hat auch hier nachhaltige Wirkung gehabt.

Mit dieser – wenn wir so wollen, ersten „marktwirtschaftlichen“ Entscheidung ist eine Entwicklung eingeschränkt worden, die um 1848 nicht wenig Anhänger hatte; nämlich eine Entwicklung, die einen gleichen Zugang für alle zu einer ärztlichen Grundversorgung sichert und zugleich auch ein angemessenes Einkommen für die Ärzte garantiert.

Das Reformprogramm in der Medizin als sozialer Wissenschaft, das von S. Neumann, R. Leubuscher und R. Virchow in dieser Zeit vertreten wurde, läßt sich so zusammenfassen:

„1. Die Gesundheit eines Volkes ist von unmittelbarer gesellschaftlicher Bedeutung; daher hat die Gesellschaft die Pflicht, die Gesundheit ihrer Mitglieder zu schützen und zu sichern.

  1. Soziale und wirtschaftliche Bedingungen haben in vielen Fällen einen entscheidenden Einfluß auf die Gesundheit und Krankheit; diese Beziehungen müssen wissenschaftlich untersucht werden.
  2. Die zur Gesundheitsförderung und Krankheitsbekämpfung unternommenen Schritte müssen sowohl sozialer wie medizinischer Natur sein.“

Ein Versuch, diese Prinzipien zu realisieren, existierte bereits im Großherzogtum Nassau von 1800 – 1866 und hatte durchaus repektable Erfolge aufzuweisen. Die Verantwortung für das Gesundheitswesen war staatlich geregelt, die Ausgaben betrugen das 5fache im Vergleich zu Preußen. Während in Preußen 1850 auf 5400 Einwohner ein Arzt kam, waren es 3500 Einwohner je Arzt in Nassau. Bei der Angliederung Nassaus an Preußen 1866 wurde dieses System der ärztlichen Versorgung liquidiert. Der zuständige preußische Landrat hatte erklärt, „daß das Nassauische System keine Assoziation darstelle, sondern daß es sich hier um Kommunismus und Sozialismus handele.“ In den Akten findet sich der Satz: „Den Staat geht die Heilkunst so wenig an wie die Baukunst.“

Mit der marktwirtschaftlichen Orientierung entstanden mindestens drei Probleme: 1. wie verhält sich die Ärzteschaft zu Patienten, die nicht zahlen können? 2. Wie verhalten sich die Ärzte untereinander im Konkurrenzkampf und 3. welche Instanz übt die Kontrolle über die ärztliche Tätigkeit aus?

Alle drei Fragen waren über ein Jahrhundert Gegenstand ärztlicher Berufsorganisationen, wurden begleitet von Ärztestreiks im Konkurrenzkampf untereinander sowie gegen die Einführung von Polikliniken und staatlichen Regulierungen. Im Ergebnis einer Auseinandersetzung zwischen der hippokratischen und der marktwirtschaftlichen Tradition entstanden in den kapitalistischen Ländern als Kompromiß soziale Sicherungssysteme für Patienten, staatliche Aufsichtsbehörden und Berufsorganisationen der Ärzte und Pflegekräfte.

Für Deutschland, Österreich, Belgien und Frankreich ist das Sozialversicherungsmodell charakteristisch, in dem annähernd die gesamte Bevölkerung Versicherungsschutz genießt. Ein staatliches Modell in Form von nationalen Gesundheitsdiensten entstand in Großbritannien, Italien, Schweden und Spanien. Das Marktmodell, das im wesentlichen auf der privaten Krankenversicherung beruht, bildete sich in Europa am stärksten in der Schweiz heraus; für die gegenwärtige Diskussion spielt aber das System der USA die entscheidende Rolle, weil in ihm alle Gefahren der Entsolidarisierung am deutlichsten erkennbar sind. Nicht umsonst wird deshalb sogar in der Regierungskoalition betont, man wolle das USA-System nicht kopieren.

In den sozialistischen Ländern wurden in einem starken und sicher übertriebenen Maß die Gesundheitseinrichtungen verstaatlicht, die Berufsorganisationen aufgelöst und die sozialen Sicherungssysteme zu einem einheitlichen Sozialversicherungssystem umgestaltet. Der Grundgedanke dieser antimarktwirtschaftlichen Tradition bezog sich auf die sozialdemokratische und kommunistische Forderung von der Unentgeltlichkeit des Gesundheitsschutzes. Dazu hatten allerdings schon F. Engels und K. Kautsky ebensolche Bedenken vorgebracht wie gegen die Verstaatlichung aller Arztpraxen. Der Gedanke des solidarstaatlichen Prinzips und der Verhinderung einer Zweiklassenmedizin bleibt jedoch eine bedeutsame humanistische Tradition aus dieser Zeit.

Mit dem Scheitern des „realen Sozialismus“ in Europa werden häufig vorschnell die Erfahrungen eines sozialistisch orientierten Gesundheitssystems pauschal verworfen. Eine differenzierte Analyse könnte jedoch zeigen, daß neben gravierenden Fehlentscheidungen in Bezug auf die Ausübung des ärztlichen Berufes eine Reihe wichtiger sozialer und solidarischer Verantwortungsbezüge durchgesetzt wurden, die bedeutende positive Wirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung hatten – und zum Beispiel in Kuba noch haben. (Es gibt kein lateinamerikanisches Land, das kontinuierlich in den letzten 20 Jahren eine so hohe Lebenserwartung aufzuweisen hat, wie Kuba.)

In allen gesundheitspolitischen Vergleichen gilt die Lebenserwartung als ein Indikator für Erfolge oder Mängel. Nehmen wir als ein Beispiel die Entwicklung der mittleren Lebenserwartung, so sehen wir, daß sie bei annähernd gleichen Ausgangswerten im Osten und Westen Deutschlands von 1955 bis 1975 bei den Frauen und bis 1976 bei den Männern annähernd gleiche Verläufe genommen hat, wobei bis dahin die Lebenserwartungswerte der DDR-Bevölkerung überwiegend günstiger waren. Seit den 80er Jahren ist die Lebenserwartung in der BRD höher als in der DDR.

Aber bei einem Ost-West-Vergleich von Gesundheitsdaten im Jahr 1995 stellten die Autoren mit Überraschung fest, daß die Prävalenzrate an Herzinfarkt (Gefährdung, einen Herzinfarkt zu bekommen, – A.P.) bei westdeutschen 25- bis 69jährigen Männern doppelt so hoch wie bei Ostdeutschen ist (4,2 % versus 2,1 %). Auch bei den westdeutschen Frauen im Alter von 25 bis 69 Jahren liegt eine höhere Prävalenz vor (1,6 % versus 0,3 %). In den alten Bundesländern leidet die männliche und weibliche Bevölkerung im Alter von 25 bis 69 Jahren deutlich häufiger an Hypotonie als die Bevölkerung in den neuen Bundesländern (18,4 % bzw. 43,9 % versus 6,7 % bzw. 23,1 %). Ähnlich sind die Daten bei allergischen Krankheiten, bei Unfällen, bei Hepatitis-B; dafür ist der Alkoholverbrauch im Osten höher, Westdeutsche treiben mehr Sport, gehen häufiger zum Arzt und sind im Durchschnitt einen Zentimeter größer als Ostdeutsche.

Die Gründe für die höhere Lebenserwartung der westdeutschen Bevölkerung seit den 80er Jahren liegen zum Wesentlichen in den intensivmedizinischen Möglichkeiten zur Rettung bei Lebensgefahr (z.B. von untergewichtigen Säuglingen, Herz-Kreislauf-Kranken), sie liegen aber auch in einer höheren Alterssterblichkeit – besonders der Männer – im Osten.

Im Ärzteblatt von Sachsen-Anhalt ist ein interessanter Vergleich über die Todesfälle bei Herzinfarkt zwischen alten und neuen Bundesländern enthalten:

Todesfälle je 100.000 der Bevölkerung:

Jahr       alte Bundesländer /           neue

1990         117,2                        71,2

1992         107,8                      115,8

1994         101,7                      126,8 

Sarkastisch könnte man hier vom „Überholen ohne Einzuholen“ reden. Bedenkt man, daß in den Jahren nach 1990 in den Ostdeutschen Krankenhäusern sehr viel an moderner Technik investiert wurde, sind die Zahlen doppelt tragisch und drücken Lebensumstände aus.

Die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitswesens kann natürlich nicht die gesamten Lebensbedingungen ausgleichen. Wie Vergleiche in Berlin kürzlich zeigten, ist die Lebenserwartung in Kreuzberg erheblich niedriger als in anderen westlichen und östlichen Teilen Berlins. Insofern ist unser Problem auch nicht auf die gesellschaftliche Stellung der Ärzteschaft zu reduzieren.

Die soziale Stellung der Ärzte als freiberuflich Tätige hat natürlich wesentliche Vorteile gegenüber Arbeitern und Angestellten in Bezug auf ihre materielle Situation. Allerdings tragen auch Ärzte ein Risiko, sich zu verschulden und ihre berufliche Existenz zu gefährden; dies insbesondere in den neuen Bundesländern, bedingt durch Kreditaufnahme einerseits und Budgetierung andererseits. (Das Einkommen der Ärzte im Osten liegt bei 68 % vom Westen)

Seit 100 Jahren gehört es deshalb zur Tradition, daß die Berufsorganisationen der Ärzte sich gegen staatliche Eingriffe wehren, daß der Anreiz, viele Patienten zu behandeln, die Gefahr birgt, flüchtig zu untersuchen („Hals-Brust-Dreieck“) und daß der Kampf um hohe Einkünfte Raum für kriminelle Energien mit sich bringt.

In einer kritischen Darstellung der gegenwärtigen Problematik schreibt J. Huber dazu: “Die Ärzte bestimmen, die Kassen bezahlen. Nirgends, außer noch im Schul- und Hochschulbereich ist der Freibiereffekt so ausgeprägt.“ Von den Ehrengerichten des vergangenen Jahrhunderts bis zu den Ethikkommissionen der Gegenwart reichen die Versuche zur „Selbstkontrolle“.

Je stärker sich marktwirtschaftliche Tendenzen durchgesetzt haben, desto mehr verwandeln sich Ethikkommissionen in Instrumente für die „Anbieter“ von pharmazeutischen und ärztlichen Unternehmen.

Die kontinuierliche Auseinandersetzung der Ärzte mit den Kassen und dem Staat wäre ein eigenes Thema. Hier sei nur so viel bemerkt, daß die Ärzte nicht immer die Gewinner waren und sind; die entscheidenden Gewinner waren stets die Eigentümer der Pharmaindustrie und Medizintechnik. Am Angebot fehlt es keinesfalls; nur die Ärzte und Pfleger als „Anbieter“ sehen das Problem: „Wer soll das bezahlen?“

Insofern ist der Wandel von der hippokratischen zur marktwirtschaftlichen Tradition mindestens durch drei Konsequenzen gekennzeichnet:

  1. die Kosten bestimmen das Maß des Angebotes; „es muß sich rechnen“ heißt das Prinzip;
  2. eine nie dagewesene Bürokratisierung erschwert den Bedürftigen den Zugang;
  3. da das Risiko und die Kosten das Arzt-Patient-Verhältnis beeinflussen, entsteht ein nicht mehr zu überschauendes System von Rechtsbestimmungen, (vom Geburtsschaden bis zur Sterbehilfe), bei dem wiederum das Geld über die Moral siegt (oder die Monetik über Ethik).

Der Paradigmenwechsel vom Patienten zum Kunden

Im marktwirtschaftlichen Konzept ist dieser Wertewandel zweifellos der attraktivste, er entspricht der allgemeinen Grundtendenz des Strebens nach Autonomie, Selbstbestimmtheit, Selbstverwirklichung, Eigenverantwortung.

Es besteht auch kein Zweifel darüber, daß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Möglichkeiten der modernen Medizin sowohl eine veränderte Erwartungshaltung bei der Bevölkerung hervorgebracht haben (die Medizin repariert die gesundheitlichen Schäden und sorgt für ein schmerzfreies, glückliches, langes Leben) als auch Ängste vor einer Herrschaft der Ärzte, gegen den Willen der Patienten ein leidvolles Dasein zu verlängern.

An die Stelle der ärztlichen Verpflichtung: „Das Wohl des Patienten ist oberstes Gesetz“ trat die Forderung von Patienten an die Ärzte: „Der Wille des Patienten ist oberstes Gesetz“, an die Stelle der Fürsorge durch Betreuende (Pflegende eingeschlossen) trat die Selbstbestimmtheit der Patienten.

Das kritische Wort heißt „Paternalismus“ und es wird als Entmündigung verstanden. Selbst ein „milder Paternalismus“ (sich im Interesse des Patienten behutsam und zeitweilig gegen seinen Willen um sein Wohl bemühen) bedarf der Rechtfertigung.

Unter den heutigen Bedingungen der modernen Medizin ist die Grundtendenz dieser Entwicklung, die Achtung des Willens des Patienten, eine geschichtliche Notwendigkeit. Es fragt sich aber, mit welcher Radikalität Wille und Wohl des Patienten entgegengesetzt werden müssen. Und vor allem ist fraglich, wie „mündig“ der Patient tatsächlich ist und in welcher Weise er sein Verhältnis zum Arzt als „Kunde“ gestalten kann.

Die Autonomie des Patienten gilt in der Medizinethik als oberstes Prinzip, die Praxis ist davon weit entfernt. Trotzdem ist der Gedanke von der Autonomie so selbstverständlich geworden, daß die Überlegung, dieses Prinzip könne zum Schaden des Patienten werden, kaum eine Rolle spielt. Tatsächlich wird jedoch dieses Prinzip in der Marktwirtschaft zu einem gefährlichen Bumerang, wofür ich vier Beispiele anführen will: 

  1. Die Folgen der Asymmetrie von Anbietern und Kunden:

Das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis entstand aus der Notwendigkeit, von einer kompetenten Persönlichkeit Hilfe zu bekommen. Die Grundsituation ist geblieben; es brauchte keiner so langen Aus- und Fortbildung in der Medizin, wenn es diese Asymmetrie – bedingt durch Sachkompetenz und Hilfebedürftigkeit – nicht gäbe. Die Professionalität bringt mit der Kompetenz die Verantwortung, die Suche nach Hilfe enthält eine gewisse Abhängigkeit. Hier liegt auch die Quelle für den Paternalismus und für den Reiz, als Kunde aus der Abhängigkeit heraus und in die Selbständigkeit zu kommen. Gegenwärtig wird am Beispiel von Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen der Eindruck erweckt, als sei die Asymmetrie eine Sache der Vergangenheit.

In bestimmten Bereichen des Arzt-Patient-Verhältnisses hat sich gezeigt, daß in Selbsthilfegruppen durch gewachsene Kompetenz der Patienten die Asymmetrie eingeschränkt werden kann. So entstand auch das Modell der partnerschaftlichen Beziehung, in der von der professionellen Seite her das Bemühen dominiert, Paternalismus zu vermeiden.

In unserer pluralistischen Gesellschaft sind es nicht nur Ärzte, sondern auch Patientenorganisationen, die das Kundenmodell favorisieren und fordern, die Ärzte und Krankenkassen sollten die Rechnungen an die Patienten ausstellen und diese sollten sich dann von ihren Kassen die Kosten im vertraglichen Umfang erstatten lassen. Das würde die Stellung der Patienten gegen die „geballte Anbieter- und Verbändemacht“ stärken.

Die Gesundheit ist aber kein beliebiges Konsumgut und Krankheit ist ein Geschehen, das weder von der Art noch von der Zeit und der Intensität vorausgesehen werden kann. Der Patient bleibt deshalb in seiner „Konsumentensouveränität“ eingeschränkt, es besteht „Anbieterdominanz“.

Die Aushandlung von Kosten zwischen Zahnärzten und Patienten ist ein Versuch zur Durchsetzung der „Kundensouveränität“. Es darf bezweifelt werden, daß es ein Beweis der Überwindung der Asymmetrie wird. 

  1. Die Gefahr des Verlustes an Mitmenschlichkeit:

Auch hier ist es so, daß aus der Sicht der Autonomie der Patienten ein solcher Verlust bezweifelt wird. Die Traditionslinie der Asymmetrie und des Paternalismus bewirkte auch die Situation der Patienten als Bittsteller und hinterließ viele Narben.

Wer möchte nicht König Kunde sein? Dazu mit einem reichhaltigen Angebot im Wettbewerb der Ärzte, Pflegekräfte, Krankenhäuser, Altenheime und sozialen Dienste. Auch in kritischen Analysen ist zu finden, daß der Wettbewerb die Anbieter zwingt, sich um die Patienten zu bemühen. Aber die Sache hat ihren Haken. Sehr schnell ist das in jenen Einrichtungen erkannt worden, in denen Hilfe für Hilflose das zentrale Thema ist, z.B. in der Diakonie.

In seiner Arbeit „Markt und Menschenwürde – eine Standortbestimmung für die diakonische Arbeit“ schreibt R. Turre:

„Keiner darf aber übersehen, daß die Marktorientierung auch zu Verlusten im Sozialen führt:

– Der Markt ist moralisch blind. Er wirkt bei Gütern so auch bei Menschen nach seinen eigenen Gesetzen.

– Der Markt ist verschleißorientiert. Noch immer haben wir im Sozialwesen die größte Fluktuation bei den Arbeitnehmern.

– Die Effektivität wird am materiellen Gewinn ermittelt….

– Nur die quantifizierbare Leistung wird gemessen, bewertet und erstattet.“

Man kann es auch so zusammenfassen:

„- aus Helfern von Menschen werden Anbieter von Dienstleistungen

– aus persönlicher Zuwendung wird definierter Qualitätsstandard

– aus selbstverständlicher Hilfe werden Punkte eines Abrechnungssystems

– aus dem Wetteifer der Helfer wird der Wettbewerb der Verdiener

– aus Opferbereitschaft wird Gewinnstreben

– aus der ganzheitlichen Hilfe wird die quantitative Leistungsbewertung

– aus der Liebe wird ein Produkt

– aus der Würdigung von Personen wird die Wertung nach Funktionen

– aus Dienstgemeinschaften wird Humankapital

– aus kirchlichen Maßstäben werden ökonomische Richtlinien.“

Der Hamburger Theologe H. Ihmig warnte 1997 in seinem Beitrag „Diakonie als Kundenservice? Zu Marktorientierung und Eigensinn der Diakonie“ ebenfalls vor der Verlockung des „Management-Modells“. Er sah in der Einführung der populären Leitbegriffe „wie Kunde, Dienstleistung, Produkt, Effizienz … keine harmlosen sprachlichen Anleihen, sondern eine gedankliche Invasion, die Sicht- und Handlungsweisen prägt.“

Deshalb setzte er ganz bewußt „Kundenfreundlichkeit“ und „Menschenfreundlichkeit“ ins Verhältnis und schrieb: „Ich nehme vielmehr das Wort ´Kunde´, das bisher eher spaßeshalber in der Sozialarbeit verwandt wurde, so ernst, wie es jetzt ernst genommen werden will: als Programm. Nomen est omen. Was ist ein Kunde? Ein Mensch, dessen Bestes man will, gewiß – nämlich sein Geld.“

„Das Interesse am Kunden“, so heißt es weiter, „gilt nicht seiner Person, sondern seiner Verwertbarkeit“. Deshalb hat auch nach der Marktlogik „ein Kunde keine Würde, sondern einen Wert. Dieser Wert wird nach Maßgabe der Kaufkraft taxiert.“

Und hier wird schon das Risiko des Kunden deutlich, wenn seine Kaufkraft als zu gering taxiert wird. 

  1. Die ökonomischen Risiken der Patienten im angestrebten Marktmodell:

Die Begründung für die Eigenverantwortung und Selbstbeteiligung der Patienten ist ebenso alt wie die Diskussion über die Notwendigkeit der „Kostendämpfung“. Seit den 70er Jahren sind es wohl mehr als 200 einzelne Gesetze, die zur Umverteilung der Kosten erschienen sind. Trotzdem ist das Thema der „Kostenexplosion“ zentrales Argument für die Notwendigkeit, sich von der „Erblast“ des Sozialstaates zu „befreien“. Joseph Huber schrieb schon 1988 über die Verdreifachung der Kosten im Gesundheitswesen und meinte, daß „30 – 40% der Gesundheitskosten ohne Schaden für die Volksgesundheit eingespart werden können.“

In einem Vergleich über Aufwand und Ergebnis des Gesundheitswesens verschiedener Länder für das Jahr 1984 schneiden die USA mit den höchsten Kosten von 1.500 $ pro Kopf und mittlerer Lebenserwartung von 75 Jahren am schlechtesten ab. Danach folgt die BRD mit 900 $ bei einer Lebenserwartung von 73 Jahren; am günstigsten sieht er Großbritannien mit 400 $ und der Lebenserwartung von 74 Jahren.

Der Anstieg der absoluten Ausgaben für die Gesundheit ist unbestritten. Auch der Kritiker des Neoliberalismus im Gesundheits- und Sozialwesen H. Deppe benennt den Anstieg von 1970 bis 1993 auf das 6-fache. Trotzdem hält er das Argument der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen für wissenschaftlich völlig überholt. Analysiert man „die Entwicklung des prozentualen Anteils der Gesundheitsausgaben im Bruttosozialprodukt – und zwar insgesamt und des Anteils, der von der gesetzlichen Krankenversicherung aufgebracht wird“, so sieht man, daß beide Raten seit 1975 fast konstant geblieben sind, nämlich etwa bei 9%.

Zum Vergleich: Im wettbewerbsorientierten Gesundheitswesen der USA lag die Rate 1994 bei 14% vom BIP; die USA haben außerdem die höchsten Verwaltungskosten, nämlich 24% der Gesundheitsausgaben (Deutschland 13%).

Das reale Problem ist, daß die Beitragssätze der Krankenkassen sich nicht am Bruttosozialprodukt, sondern an der Lohntüte orientieren. Und hier schlägt die zunehmende Arbeitslosigkeit voll durch. Die Einnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung sind zurückgegangen – auch wegen der Zurückhaltung der Gewerkschaften in der Tarifpolitik, aber die Beitragssätze sind um ein Vielfaches gestiegen. Bei einer gleichbleibenden Beschäftigung in den 90er Jahren könnte der Beitragssatz dem von 1980 entsprechen.

Somit ergibt sich, daß im Konkurrenzkampf der Arbeitgeber und der Kassen das Bestreben existiert, die Ausgaben zu verlagern. J. Huber fordert in seinem Buch: „Deshalb sollen die Arbeitgeberlohnanteile den Arbeitnehmern zugerechnet werden und diese sollen ihre gesamten Krankenkassenbeiträge selbst bezahlen … Ehefrauen und Rentner sollen nicht mehr automatisch krankenversichert sein. Alle Erwachsenen – ob erwerbstätig oder nicht, ob ledig oder verheiratet – sollen ihre Krankenkasse für sich und selbst bezahlen.“

Huber bezieht sich auf amerikanische und französische Untersuchungen, nach denen etwa 15 % der Bevölkerung einen unverantwortlichen Lebensstil haben, so daß sie „zwei

Drittel der gesamten Gesundheitskosten absorbieren.” Deshalb würde er es vorziehen, sich „nur in einem solchen Vorsorgeverbund vertraglich zu binden, dessen Mitglieder sich verpflichten (bei Strafe ihres Versicherungsverlustes), immer mit Gurt und nie schneller als 50 bzw. 100 km/h Auto zu fahren, nicht zu rauchen und gewisse Promille- und Gewichtsgrenzen nicht zu überschreiten. Wem dies nicht gefällt, der wird sich einem anderen Vorsorgeverbund anschließen mit erheblich höheren Beträgen.“

Die Kostendiskussion wird hier mit der Gesundheit so verquickt, als ob es jeder in der Hand hätte, wie sein Gesundheitszustand heute und morgen ist. Sicherlich ist dann auch der Unfall selbst verschuldet und der genetische Schaden hätte vermieden werden können und dann sind wir beim sozialdarwinistischen Prinzip des „Survival of the fittest”.

Das Risiko krank zu werden, wird zum persönlichen Risiko.

Und daraus ergeben sich

  1. die Folgen für die Schwächsten der Gesellschaft:

Die Gruppe der Schwächsten der Gesellschaft ist sehr differenziert zu sehen. Zu ihnen gehören Arbeitslose, Wohnungslose, Straßenkinder, Alleinerziehende und ihre Kinder, Menschen mit Behinderungen.

Im Sozialreport 97 wird die Auswirkung der gewachsenen Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit nach zwei Richtungen deutlich: zum einen schätzen sich Arbeitslose wesentlich weniger gesund ein (70 % der Erwerbstätigen aber nur 50 % der Arbeitslosen), zum anderen wirkt sich die Situation auch auf die aus, die befürchten, arbeitslos zu werden.

Die Bevölkerung der neuen Bundesländer trifft die Situation der doppelt so hohen Zahl der Arbeitslosen nicht nur besonders hart in der materiellen Lage, sondern mehr noch in der Entwertung der Persönlickeit; dabei wächst die Chancenlosigkeit für Frauen und Arbeitslose über 40 Jahre.

Der Weg von der Arbeitslosigkeit zur Wohnungslosigkeit und psychischer Erkrankung ist bereits international Gegenstand medizinischer Untersuchungen. In den Großstädten der USA sind „homeless people” längst „unübersehbarer Bestandteil der sozialen Wirklichkeit. Aus Studien in den alten Bundesländern geht hervor, daß ein hoher Anteil der Wohnungslosen in Deutschland an Alkoholabhängigkeit leidet (über 70 %), 10 % etwa an schizophrenen Psychosen oder Drogenmißbrauch und ein Drittel an zwei oder mehreren psychischen Störungen. Ein großer Teil der Betroffenen bagatellisiert, bzw. verleugnet die Problematik und lehnt ärztliche Behandlung ab. Es gibt ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft und „ein zum teil unvorstellbares Maß der Verwahrlosung.” Nur eine verschwindende Minderheit strebe aber diese Existenzform des Obdachlosen an.

In einem Beitrag über ambulante gemeindepsychiatrische Versorgung in der DDR verwies die Chefärztin einer psychiatrischen Beratungsstelle in Berlin-Lichtenberg (mit 23 Mitarbeitern, darunter vier Fachärzten, acht klinische Psychologen, sieben Fürsorgerinnen, zwei Krankenschwestern) auf folgendes Bewahrenswerte aus der DDR-Zeit: „…der psychisch Kranke kam in den Genuß vieler Rechte und sozialer Absicherungen … Beispielsweise durfte ihm auf der Arbeit nicht gekündigt werden, er konnte nicht aus der Wohnung gewiesen werden, auch wenn er jahrelang seine Miet- und Energierechnungen nicht beglich. Er konnte berentet werden und trotzdem weiterarbeiten …” Der von ihr geleitete Chefarztbereich konnte nach der Wende als eine aus öffentlichen Mitteln getragene poliklinische Einrichtung nicht weitergeführt werden.

„Niemand darf wegen Behinderung benachteiligt werden” lautet eine Ergänzung im Grundgesetz. Dem entgegen steht das Flensburger Urteil 1992 (Urlaubsentschädigung für eine Familie, die mit einer behinderten Person zusammen den Speiseraum nutzen „mußte“), das Urteil des Verwaltungsgerichtes Karlsruhe 1996 (kein Anspruch auf gemeinsamen Unterricht mit nicht behinderten Kindern) und das Urteil des OLG Köln 1998 (Lebensäußerungen geistig behinderter Menschen in der Nachbarschaft eines Musikers seien für diesen unzumutbar).

Verfolgt man die Diskussion über die Pflegeversicherung, dann wird deutlich, daß nicht wenige Menschen mit Behinderungen ihre Lebensbedingungen verschlechtert sehen. Es betrifft z. B. Menschen, die mehrfach in der Woche Hilfe benötigen, nicht aber täglich, oder andere, deren Hilfebedarf in einer kürzeren Zeit als neunzig Minuten täglich erledigt werden kann; sie erreichen nicht die Kriterien für die Pflegestufe I und können damit keine Leistungen beanspruchen.

Das ist der gegenwärtige Stand; was soll werden, wenn die Visionen Baiers, Hubers und anderer Gleichgesinnter sich durchsetzen?

Es sei an dieser Stelle abschließend eine Aussage Klaus Dörners aus dem Jahr 1993 zitiert. Seine Gedanken zur Logik und Ethik der Marktwirtschaft beschrieb er so: diese Logik und Ethik lautet: “Investieren, wo es sich am meisten lohnt.“. Dem gegenüber forderte er „für den sozialen Bereich die Norm aufzustellen: investieren (an Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, manpower und liebe), wo es sich am wenigsten lohnt.”

Daß die Liquidierung des Sozialstaates eine ernste Gefahr an der Schwelle zum 2. Jahrtausend ist, dürfte kaum noch bestritten werden. Wer sich der Tradition sozialer Gerechtigkeit und Solidarität verpflichtet sieht – ganz gleich ob Christ, Jude, Muslim oder Atheist – kann nur eines hoffen: daß sich alle Gegner dieser neoliberalistischen Marktorientierung zu einer Wende in der Politik verbünden.

 

 

Wir übernahmen diesen Beitrag – gekürzt – mit freundlicher Genehmigung des Vereins zur Förderung von Kultur, Wissenschaft und politischer Bildung Sachsen-Anhalt e.V. aus dem 1998 im Trafo-Verlag Berlin erschienenen Tagungsband „Traditionslinien von gesundheitspolitischen Positionen in Deutschland vom 20. in´s 21. Jahrhundert“.

 

 

aus ICH Winter 97/ 98