“… wie ich 23 Jahre lang im Westen und ein Jahr im Osten gelebt habe.”

 

Liebe psychologisch interessierte Ex-DDR-Bürger!

Viele Wessis meinen, ganz genau zu wissen und unbedingt erzählen zu müssen, was Ihr alles falsch gemacht habt und wie sie hier gelebt hätten. Ich will mich dem nicht anschließen, sondern erzählen, wie ich 23 Jahre lang im Westen und ein Jahr im Osten gelebt habe.

Ich war kaum politisch interessiert, fand das System, in dem ich aufwuchs, sehr gut. Die Probleme werden schon noch gelöst werden von denen da oben, die werden das schon richtig machen. Gewisse Dinge sind halt nicht zu ändern, und wenn ich damit nicht klarkomme, liegt das an mir und nicht an der Gesellschaft.

Mein Chemiestudium bedeutete mir alles, damit konnte ich auch sehr gut kompensieren, was ich sonst an Enttäuschungen und Frust erlebte. Irgendwann funktionierte das nicht mehr. Ich erkannte, daß ich mich ein bißchen ändern muß, ein bißchen was anders machen muß. In dieser Zeit meines beginnenden inneren Umbruchs begann auch gerade der Umbruch in der DDR – was mein Interesse für Politik weckte. Ich hörte im Westen bald nur noch DDR-Radio – unter anderem die Gedanken von Dr. Maaz – und ich meinte, daß wäre für mich gesagt.  Mir wurde klar, wie sehr mein Studium Ersatz für die Liebe war, die ich in meiner Kindheit vermißt hatte, und daß „ein bißchen ändern“ genausowenig geht wie ein bißchen schwanger. Ich verlegte mein Studium nach Jena.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus und die Begegnung mit den Menschen, die ihn alle mitgetragen haben, begann ich darüber nachzudenken, was für eine Gesellschaft eigentlich ich mein Leben lang mitgestaltet habe. Ich begann ein neues Leben, engagierte mich politisch, zeigte meine Solidarität mit den DDR-Bürgern, nahm kurz vor dem Anschluß die DDR-Staatsbürgerschaft an. Ich machte viele neue Erfahrungen und lernte viel dazu. Aber ich erkannte auch, daß ich immer noch meine alten Grenzen habe. Daß ich eigentlich aus meiner Vergangenheit fliehen wollte, die mich doch immer noch einholt. Daß ich die Unsicherheit durch den Verlust der großen Bedeutung meines Studiums nicht ausgehalten habe und mich deshalb auf etwas Neues gestürzt habe.

Ich werde wieder in den Westen zurückkehren, um dort mein Studium zu beenden. Aber bei dieser Entscheidung hat auch eine Rolle gespielt, daß ich da meine Wurzeln spüre und ich dort auf die Mentalität der Menschen besser eingehen kann. Ich werde mich weiter mit Politik beschäftigen und besonders die psychologische Sicht einzubringen versuchen. Auch, um mit mir selber besser klarzukommen. Ich bin in die Psycho-Gemeinschaft eingetreten und hoffe, im Westen Menschen dafür gewinnen zu können – den die Wessis haben das genauso nötig.

Liebe Ex-DDRler, ich erzähle Euch das, um Euch zu sagen, daß das, was Ihr erlebt, nichts Ost-Spezifisches, sondern etwas ganz normal Menschliches ist, von dem ich einiges nachfühlen kann. Lasst Euch von keinem Wessi einen DDR-Minderwertigkeitskomplex einreden!

Ich gehe ungern hier weg, werde ständig wiederkommen, denn ich hänge an Euch.

Gitti Götz