„Selbsterfahrung ist nicht gleich Psychoanalyse“. Aus einem Brief

Den Artikel ,,Vorsicht, Psychoboom“ habe ich mit Aufmerksamkeit gelesen. Seinem Anliegen für den Leser, vorsichtig und kritisch bei der Suche nach einem Therapeuten zu sein, stimme ich zu. Bedenklich finde ich allerdings, wie er ,,Wochenend-workshops“ beschreibt, als solche, die ,,oft nur Probleme aufreißen“.

Er akzeptiert ,,workshops“, wenn solche ,,über einen langen Zeitraum immer wieder stattfinden“. Natürlich ist eine kontinuierliche Arbeit therapeutisch immer gut. Trotzdem entscheiden sich aber viele Menschen für Wochenend-workshops, was auch nicht einfach mit New-Age-Modeerscheinung zu erklären ist.

Vielleicht aber mit der Möglichkeit, in konzentrierter und direkter Form Wissen zu erlangen und Erfahrungen zu machen, die den Teilnehmer in seinem Prozeß einen Schritt weiter bringt.

Was ja in dem Artikel, wie auch in der gesamten Zeitung, völlig fehlt, ist dies, daß sich die Psychologie seit der Psychoanalyse um die Methoden der Humanistischen Psychologie gewaltig weiterentwickelt hat, wie z. B. um Gestalttherapie, das Psychodrama, die Bioenergetik u. a. und daß dies heute die Methoden sind, mit denen mehrheitlich – auch in den Wochenend-workshops – gearbeitet und ausgebildet wird.

Die Psychoanalyse als praktizierte Therapieform nimmt heute im Vergleich dazu quantitativ einen ganz geringen Stellenwert ein – eine Minderheit. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist das Therapieangebot äußerst begrenzt, und zum anderen dauert die Psychoanalyse mehrere Jahre.

Das stellt für mich deren einzigartigen Wert in keinster Weise in Frage und schon gar nicht deren historische Bedeutung. Aber es wäre schade und letztendlich falsch, Psychotherapie und Selbsterfahrung auf Psychoanalyse zu reduzieren.

Hans Menne, Berlin (West)

 

aus ICH 1/ 91