Schmusegeschichte

Vor langer Zeit lebten einmal zwei glückliche Leute, Franz und Anna, mit ihren beiden Kindern, Sebastian und Luci. Um zu verstehen, wie glücklich sie waren, muß man wissen, wie es damals zuging.

In jenen Tagen wurde jedem Kind bei der Geburt ein kleiner, warmer Schmusesack mitgegeben. Und jeder, der in diesen Sack hineinlangte, konnte einen warmen Schmuser herausholen. Die Nachfrage nach warmen Schmusern war sehr groß, weil derjenige, der einen warmen Schmuser geschenkt bekam, sich am ganzen Körper warm und liebkost fühlte; Menschen, die nicht regelmäßig warme Schmuser bekamen, holten sich leicht eine Krankheit im Rücken, die zur Verschrumpelung und dann zum Tode führte.

In jenen Tagen war es sehr leicht, warme Schmuser geschenkt zu bekommen. Jedesmal, wenn sich einer nach einem warmen Schmuser sehnte, konnte er zu jemanden sagen: ,,Ich hätte gern einen warmen Schmuser.“ Der andere griff dann in seinen Schmusesack und zog einen warmen Schmuser heraus, so groß wie eine Kinderhand. Sobald dieser Schmuser das Tageslicht erblickte, lächelte er und verwandelte sich in einen großen, flauschigen, warmen Schmuser. Man legte ihn dann auf die Schultern, auf den Kopf oder in den Schoß und er schmiegte sich an und verschmolz mit der Haut und verströmte überall ein gutes Gefühl. Die Menschen erbaten oft warme Schmuser voneinander, und da sie stets freiwillig verteilt wurden, brauchte keiner Angst zu haben, zu kurz zu kommen.

Eines Tages ärgerte sich eine böse Hexe darüber, daß alle so glücklich waren und niemand ihre Zaubermittel kaufen wollte. Die Hexe war hinterhältig und listig und entwarf einen Plan. Eines wunderschönen Morgens kroch die Hexe zu Franz, während Anna mit ihrer Tochter spielte, und flüsterte ihm in’s Ohr: ,,Schau Franz, schau dir nur die warmen Schmuser an, die Anna Luci gibt. Weißt du, wenn sie so weitermacht, wird sie irgendwann keine mehr haben und dann werden keine mehr für dich übrig sein!“ – ,,Meinst du, daß nicht immer, wenn wir hineinlangen, ein warmer Schmuser in unserem Schmusesack ist?“ fragte Franz erstaunt. Und die Hexe sagte heimlich grinsend: ,,Keineswegs – und wenn sie einmal alle weg sind, gibt es eben keine mehr!“ Mit diesen Worten entschwand sie auf ihrem Besen, und man hörte sie noch lange kichern.

Franz nahm sich dies zu Herzen und fing an, darauf zu achten, ob Anna einen von ihren warmen Schmusern verschenkte. Schließlich wurde er besorgt und traurig, weil er Annas warme Schmuser sehr gern mochte und sie nicht verlieren wollte. Er fand es plötzlich nicht mehr richtig, daß Anna ihre warmen Schmuser an die Kinder und andere Leute verteilte. Wenn Anna jemand anderem einen warmen Schmuser gab, begann er sich zu beschweren, und weil Anna ihn gern hatte, hörte sie auf, anderen Menschen so häufig warme Schmuser zu geben, und sie reservierte sie für ihn.

Die Kinder beobachteten das und kamen bald auf die Idee, daß es falsch sei, warme Schmuser herzugeben, wann immer man wollte oder drum gebeten wurde. Auch sie wurden sehr vorsichtig. Sie beobachteten ihre Eltern genau, und wenn sie das Gefühl hatten, daß sie anderen Menschen zu viele Schmuser gaben, fingen sie an, sich zu beschweren. Auch wurden sie allmählich besorgt, daß sie selbst zu viele warme Schmuser vergeben könnten. Obwohl sie jedesmal, wenn sie in den Sack langten, dort einen warmen Schmuser vorfanden, langten sie immer seltener hinein und wurden immer geiziger.

Schon bald bemerkten die Menschen den Mangel an warmen Schmusern und fühlten sich immer weniger warm und liebkost. Sie fingen an, zusammenzuschrumpfen, und gelegentlich starben Menschen an Mangel von warmen Schmusern. Immer häufiger gingen die Menschen zur Hexe und kauften ihre verschiedenen Mittelchen, obgleich sie nicht zu wirken schienen.

Nun, die Situation wurde immer ernster: Die böse Hexe, die all dies gesehen hatte, wollte nicht wirklich, daß die Menschen starben, da Tote ja keine Zaubermittel kaufen. Deshalb entwickelte sie einen neuen Plan. Sie gab jedem einen Sack, der dem Schmusesack sehr ähnlich sah, nur daß er kalt war. Im Sack der Hexe waren kalte Fröstler. Diese kalten Fröstler gaben den Menschen kein warmes und liebkosendes Gefühl, sondern hinterließen fröstelnde Kälte unter den Menschen. Aber sie vermieden eine Verschrumpelung des Rückens. Von jetzt an sagten die Leute jedesmal, wenn jemand von ihnen einen warmen Schmuser haben wollte: ,,Ich kann dir keinen warmen Schmuser geben, aber hier hast du einen kalten Fröstler“, denn sie bangten um ihren Vorrat an warmen Schmusern.

Manchmal geschah es, daß zwei Menschen aufeinander zugingen und dachten, sie bekämem warme Schmuser. Doch einer von beiden überlegte es sich dann doch, und schließlich gaben sie sich nur kalte Fröstler. Die Folge war, daß zwar nur noch wenige Menschen starben, jedoch waren sehr viele Menschen unglücklich und fühlten sich kalt und fröstelnd.

Die Situation wurde sehr schwierig, da es seit dem Kommen der Hexe angeblich immer weniger warme Schmuser gab. Aus diesem Grund wurden die warmen Schmuser, die vorher selbstverständlich wie Luft waren, außerordentlich selten und wertvoll. Dies veranlaßte die Menschen, alle möglichen Dinge zu tun, um sie zu bekommen.

Bevor die Hexe aufgetaucht war, waren oft Leute in kleinen Gruppen zusammengekommen und hatten sich nie gekümmert, wer wem warme Schmuser gab. Aber seit dem Erscheinen der Hexe schlossen sich die Menschen nur noch in Paaren zusammen und reservierten so alle warmen Schmuser ausschließlich füreinander. Vergaß man sich einmal und gab jemand anderem einen warmen Schmuser, bekam man ein schlechtes Gewissen! Diejenigen, die niemanden finden konnten, der ihnen warme Schmuser geben konnte, mußten ihre warmen Schmuser kaufen und mußten Überstunden machen, um das Geld dafür zu verdienen.

Einige Leute wurden irgendwie beliebt und bekamen eine Menge warmer Schmuser, ohne selber welche herzugeben. Diese Leute verkauften dann aus ihrem Überfluß an Schmusern welche an die ungeliebten Leute, die ihre warmen Schmuser zum Überleben brauchten.

Aber es geschah noch etwas anderes: nämlich, daß die Leute kalte Fröstler sammelten, die ja umsonst und in unbegrenzter Menge zu haben waren, diese weiß und flauschig machten und dann als warme Schmuser ausgaben. Diese scheinbar warmen Schmuser waren in Wirklichkeit Plastikschmuser und verwirrten die Leute sehr.

Zum Beispiel kamen zwei Menschen zusammen und tauschten freigiebig Plastikschmuser aus, die ihnen ja eigentlich ein gutes Gefühl geben sollten – stattdessen fühlten sie sich jedoch schlecht. Da sie aber meinten, sie hätten warme Schmuser ausgetauscht, wurden die Menschen ganz bedrückt und durcheinander und bemerkten dabei nicht, daß ihre kalten fröstelnden Gefühle in Wirklichkeit von den vielen Plastikschmusern kamen.

Die ganze Situation war also total verzwickt, und all das kam nur daher, daß es der Hexe gelungen war, den Leuten einzureden, daß sie eines Tages, wenn sie es am wenigsten erwarteten, beim Hineinreichen in ihren warmen Schmusesack dort nichts mehr finden werden.

Vor gar nicht allzulanger Zeit geschah jedoch etwas Unerwartetes: Eine Frau mit breiten Hüften und langen Haaren, die im Zeichen des Wassermanns geboren war, kam in dieses unglückliche Land. Sie schien noch gar nichts von der bösen Hexe gehört zu haben und sorgte sich nicht darum, daß sie einmal keine Schmuser mehr haben könnte. So verteilte sie ihre warmen Schmuser freigiebig und sogar ohne darum gebeten zu werden. Man nannte sie die ,,Zigeunerin“ und man war über sie verärgert – setzte sie doch den Kindern in den Kopf, daß man sich nicht um ein Ausgehen der warmen Schmuser zu sorgen brauche.

Die Kinder mochten sie sehr gern, denn sie fühlten sich gut in ihrer Nähe und begannen wieder, warme Schmuser zu verteilen, wann immer sie Lust dazu hatten.

Die Erwachsenen wurden immer besorgter und beschlossen, ein Gesetz zu verabschieden, das die Kinder davor schützen sollte, ihren Vorrat an warmen Schmusern zu vergeuden. Dieses Gesetz sollte das verschwenderische Verschenken warmer Schmuser ohne Genehmigung verhindern. Vielen Kindern schien es jedoch nichts auszumachen. Trotz des Gesetzes gaben sie weiterhin warme Schmuser, wenn sie sich danach fühlten und immer, wenn sie darum gebeten wurden. Da es sehr viele Kinder gab, fast so viele wie Erwachsene, bestand die Hoffnung, daß sie sich vielleicht durchsetzen würden.

Im Augenblick ist es schwer zu sagen, was geschehen wird. Es ist noch nicht raus, ob Gesetz und Ordnung der Erwachsenen das Aufbegehren der Kinder bezwingen können, oder ob sich die Erwachsenen der Zigeunerin und den Kindern anschließen werden.

 

Autor unbekannt, zitiert nach ,,EMOTION“3/ 81

 

 

aus ICH 1/ 95