Polaritäten

von Rumi

Wahrlich nie sucht der Liebende, ohne von der geliebten gesucht zu werden.

Hat der Blitz der Liebe dieses Herz getroffen,

so wisse,

daß auch jenes Herz voll Liebe ist.

Wächst die Liebe zu Gott in deinem Herzen, so wirst auch du ohne Zweifel von Gott geliebt.

Kein Händeklatschen ertönt nur von einer Hand ohne die andere.

Göttliche Weisheit und Ratschluß macht, daß wir einander lieben.

Durch diese Vorbestimmung ist jeder Teil der Welt mit seinem Gefährten gepaart.

Nach Ansicht der Weisen ist der Himmel der Mann und die Erde die Frau:

Die Erde zieht auf, was vom Himmel herabfällt.

Fehlt der Erde die Nahrung, so schickt sie der Himmel;

geht ihr Frische und Nässe verloren, so versorgt sie der Himmel aus neue.

Der Himmel geht seinen Lauf wie der Gatte, der nach Nahrung sucht für sein Weib;

und die Erde widmet sich eifrig häuslichen Pflichten:

Sie hilft bei der Geburt und nährt, was sie gebiert.

Siehe, auch Erde und Himmel sind mit Verstand begabt,

verrichten sie doch das Werk verständiger Wesen.

Fände der eine nicht Gefallen am anderen,

weshalb hingen sie dann wie Liebende aneinander?

Wie sollten Blumen und Bäume blühen ohne die Erde?

Was würde ohne sie Wasser und Wärme des Himmels erzeugen?

So wie Gott in Mann und Frau das Verlangen gepflanzt hat,

auf das die Welt erhalten bliebe durch ihre Vereinigung,

so hat Er auch jedem Teil der Welt das Verlangen

nach einem anderen Teil dieser Welt eingepflanzt.

Feinde sind Tag und Nacht von außen gesehen,

doch dienen sie beide demselben Zweck:

Beide lieben einander, um gemeinsam ihr Werk zu vollenden.

Ohne die Nacht würde des Menschen Natur nichts empfangen,

so daß der Tag nichts mehr zum ausgeben hätte.

 

(Zitiert nach Erich Fromm: „Die Kunst des Liebens“, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1992 )

 

„… Dokumente patriarchalischer Tradition …“ Aus einem Brief 

,,Nach Ansicht der Weisen ist der Himmel der Mann und die Erde die Frau …“ Leider sind diese Weisen Patriarchen.

Der Himmel, der stets Ausdruck des Geistigen und Göttlichen ist und auch in diesen Versen eine deutlich mächtigere Position als die Erde innehat, wird hier analog der Vorstellungen des Patriarchats mit dem Mann identifiziert. Seine Macht besteht darin, daß die als weibliches Symbol eingesetzte Erde aufnehmen muß, was er hinabfallen läßt, sie ist vollkommen abhängig von seinen Wohltätigkeiten, was leider immer noch häufig reellen Gegebenheiten des Geschlechterverhältnisses entspricht.

Selbstverständlich kann kein Mann ohne das Dasein des anderen Geschlechts existieren (in der Konsequenz würde die Abwesenheit der Frau das Aussterben der Männer bedeuten). Diese umgekehrte Abhängigkeit drückt der Verfasser in der folgenden Frage aus: ,,Wie sollten Blumen blühen ohne die Erde?“.

Dadurch wird jedoch keineswegs eine gleichberechtigte Stellung für die Frau postuliert, da das Gedicht eine Glorifizierung der hierarchischen Machtkonzentration auf männlicher Seite beinhaltet. Die Frau wird in der traditionellen Sichtweise auf die Symbolik des empfangenden Elementes festgelegt, während der Mann eine aktivere Rolle zugeschrieben bekommt. Diese Arten der Rollenzuweisung sind jedoch als Resultate der Kulturentwicklung und nicht als geschichtliche Konstanten zu betrachten.

Wünschenswert wäre eine Synthese der Elemente ,,weiblicher“ und ,,männlicher“ Rollen in beiden Geschlechtern, die erst eine vollständige und ganzheitliche Verwirklichung des Menschseins im Individuum ermöglicht.

Jessika Bräg, Berlin

P.S.: Es ist tatsächlich deprimierend und ärgerlich, daß die Emanzipationsbemühungen der Frauen noch nicht so weit vorgedrungen sind, um die ernsthafte Veröffentlichung solcher Dokumente patriarchalischer Tradition ohne kritische Hinterfragung zu verhindern.

 

 

aus ICH 1 und 2/ 94