Mythos Männermacht

von Warren Farrell

Warren Farrell war jahrelang einziges männliches Mitglied in der Leitung der National Organization for Women in den USA. Während er für die Gleichberechtigung der Frauen kämpfte, wurde ihm klar, daß die Befreiung des weiblichen Geschlechts nur die eine Seite der Medaille sein kann: „Der Feminismus hat darauf hingewiesen, daß Gott auch eine Frau sein kann. Daß möglicherweise auch der Teufel eine Frau sein kann, wurde aber nie erörtert. Der Feminismus zeigt nur die Schattenseiten der Männer auf und die Sonnenseiten der Frauen. Er vernachlässigt die Schattenseiten der Frauen und die Sonnenseiten der Männer.“ Mit seinem Buch „Mythos Männermacht“ will Farrell den Männern den Rücken stärken, ohne den Frauen in den Rücken zu fallen (1). Beide Geschlechter, meint er, müssen sich verändern.

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Ein Mann tut, was ein Mann zu tun hat

Stellen Sie sich vor: Im Autoradio läuft Musik. Die Stimme eines Ansagers unterbricht: „Wir bringen eine Sonderbotschaft des Präsidenten.“ (Aus irgendeinem Grund schalten Sie nicht auf einen anderen Sender um.) Der Präsident verkündet: „Da 1,2 Millionen Männer im Krieg gefallen sind, werden wir, als Teil meines neuen Gleichstellungsprogramms, so lange nur noch Frauen zum Militär einberufen, bis 1,2 Millionen Frauen im Krieg gefallen sind.“

In allen Postämtern der Vereinigten Staaten erinnert ein Plakat der Armee Männer daran, daß sie sich mustern lassen müssen. Wie wäre es, wenn im Postamt ein Plakat hängen würde, auf dem steht „Ein Jude tut, was ein Jude zu tun hat“ … Oder wenn „Eine Frau tut …“ quer über den Leib einer schwangeren Frau geschrieben wäre …

Die Frage lautet: Wie kommt es, daß wir sofort einen Genozid darin sehen würden, wenn irgendeine andere Gruppe von Menschen aufgrund eines biologischen Merkmals ausgesondert würde, um sich zur Armee zu melden – seien es Schwarze, Juden, Frauen oder Schwule -, daß aber Männer, die aufgrund ihres Geschlechts ausgesondert werden, dies für ein Privileg und ein Zeichen ihrer Macht halten?

Was hindert Männer daran, die Sache zu durchschauen? Sie haben gelernt, das Macht zu nennen, was jede andere Gruppe Machtlosigkeit nennen würde. Wir nennen „Männertöten“ nicht Sexismus, sondern „Ruhm“. Wir nennen die Tatsache, daß eine Million Männer während des Ersten Weltkriegs in einer Schlacht (der Schlacht an der Somme) (2) getötet oder verwundet wurden, nicht einen Holocaust, wir nennen es „Dienst am Vaterland“. Wir nennen diejenigen, die ausschließlich Männer in den Tod schickten, nicht „Mörder“. Wir nennen sie „Wähler“. Unser Slogan für Frauen heißt: „Unser Körper, unser Leben“; unser Slogan für Männer: „Ein Mann tut, was ein Mann zu tun hat.“ 

Das eigene Leben leben können

1920 lebten Frauen in den USA ein Jahr länger als Männer (3). Heute leben Frauen sieben Jahre länger (4). Die Lebenserwartung von Frauen gegenüber der von Männern nahm um sechshundert Prozent zu. 

Wir wissen, daß die Tatsache, daß Schwarze sechs Jahre früher sterben als Weiße, damit zu tun hat, daß Schwarze in der amerikanischen Gesellschaft weniger Geld und Macht haben (5). Daß Männer sieben Jahre früher sterben als Frauen, wird jedoch selten als Ausdruck der Machtlosigkeit von Männern gesehen. Ist der Unterschied von sieben Jahren biologisch bedingt? Wenn das der Fall wäre, hätte er 1920 nicht nur ein Jahr betragen. Wenn Männer sieben Jahre länger leben würden als Frauen, hätten Feministinnen uns klargemacht, daß die Lebenserwartung der beste Indikator dafür sei, wer die Macht habe. Und damit hätten sie recht.

Macht heißt, über das eigene Leben zu bestimmen. Der Tod ist das Ende der Selbstbestimmung. In der Lebenserwartung kristallisieren sich, wie in einer Bilanz, die Mühen und Erfolge unseres Lebens.

Wenn Macht bedeutet, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, dann gibt es vielleicht keinen besseren Gradmesser für den Einfluß von Geschlechterrollen und Rassismus auf unser Leben als die Lebenserwartung. Hier ist die Rangfolge:

Lebenserwartung (6): Wer hat die Macht?

weiblich (weiß)             79 Jahre

weiblich (schwarz)         74 Jahre

männlich (weiß)             72 Jahre

männlich (schwarz)       65 Jahre

Weiße Frauen leben im Durchschnitt fast vierzehn Jahre länger, als schwarze Männer. Stellen Sie sich vor, welchen Zulauf Kampagnen zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit hätten, daß eine 49jährige Frau statistisch gesehen weniger Lebensjahre vor sich hätte als ihr 62jähriger männlicher Kollege!

Selbstmord als Ausdruck von Machtlosigkeit

So wie die Lebenserwartung einer der besten Indikatoren für Macht ist, ist Selbstmord einer der besten Indikatoren für Machtlosigkeit.

– Bis zum Alter von 9 Jahren ist die Selbstmordrate von Jungen und Mädchen gleich;

– zwischen 10 und 14 Jahren ist die Selbstmordrate der Jungen doppelt so hoch wie die der Mädchen;

– zwischen 15 und 19 Jahren ist sie viermal so hoch und

– zwischen 20 und 24 Jahren sechsmal so hoch (7).

– Wenn Jungen den Druck ihrer Geschlechterrolle zu spüren bekommen, steigt ihre Selbstmordrate um 25.000 Prozent (8).

– Die Selbstmordrate von Männern über 85 Jahren ist um 1.350 Prozent höher als die von Frauen im gleichen Alter. 

Die unsichtbaren Opfer der Gewalt

BEISPIEL: Als Rodney King von der Polizei zusammengeschlagen wurde, nannten wir es Gewalt gegen Schwarze, nicht Gewalt gegen Männer. Wäre eine Regina King zusammengeschlagen worden, hätte dann niemand von Gewalt gegen Frauen gesprochen?

MYTHOS: Alte Frauen sind am meisten gefährdet, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden.

TATSACHE: Alte Frauen sind am wenigsten gefährdet. Das US-Justizministerium stellt fest, daß eine Frau über 65 Jahre weniger gefährdet ist, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, als irgend jemand sonst in jeder anderen Kategorie. Und sie ist halb so gefährdet wie ein Mann gleichen Alters.(10)

MYTHOS: Frauen sind gefährdeter als Männer, Opfer von Gewalt zu werden.

TATSACHE: Männer sind doppelt so gefährdet wie Frauen, auch wenn Vergewaltigung mitgezählt wird (11) („Trifft die Angabe von 14 Prozent zu, dann werden jährlich rund eine Million Männer in Gefängnissen und Haftanstalten vergewaltigt. Zum Vergleich: Rund 120 000 Frauen werden jährlich Opfer einer Vergewaltigung oder eines Vergewaltigungsversuches“ – Warren Farrell a.a.O). Männer werden mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit Opfer eines Mordes (12).

Als das Time-Magazin eine Titelgeschichte über die 464 Menschen brachte, die in einer einzigen Woche erschossen worden waren, kam es zu dem Schluß: „Die Opfer waren meist die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft: Arme, Junge, Verlassene, Kranke und Alte.“ (13) Wenn Sie das lesen, denken Sie dann an Männer? Man mußte schon die Bilder zählen, um festzustellen, daß vierundachtzig Prozent der Gesichter hinter der Statistik Gesichter von Männern und Jungen waren. Tatsächlich waren die Opfer meist arme Männer, junge Männer, verlassene Männer, kranke Männer und alte Männer. Und doch war eine Frau – und nur eine Frau – auf der Titelseite abgebildet. Männer sind die unsichtbaren Opfer der Gewalt in Amerika. 

Das Nettoeinkommen

– Das Statistische Bundesamt der USA stellt fest, daß Frauen, die einem Haushalt vorstehen, ein Nettoeinkommen haben, das 141 Prozent über dem von männlichen Haushaltsvorständen liegt. (14) (Die Statistik des Nettoeinkommens weist aus, was er oder sie nach Abzug der verschiedenen Verpflichtungen von den verschiedenen Vermögenswerten übrigbehalten. Das durchschnittliche Nettoeinkommen einer Frau beträge 13.885 Dollar, das eines Mannes 9.883 Dollar. Warum? Männer als Haushaltsvorstände haben zwar höhere Bruttoeinnahmen und Vermögenswerte, aber auch viel höhere Zahlungsverpflichtungen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie eine Ehefrau – oder Exehefrau – unterhalten müssen, ist viel größer, als daß sie von einer Ehefrau unterhalten werden. Sein Einkommen verteilt sich auf ihn, die Ehefrau und die Kinder – nicht nur für Wohnung und Ernährung, sondern auch für Ausbildung, Versicherungen und Urlaube. Scheidung bedeutet oft, daß die Frau sowohl das Haus bekommt, das der Mann abbezahlt, als auch das Sorgerecht für die Kinder, für die der Mann unterhaltspflichtig ist. Die Verpflichtung einer Frau, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen, hat zur Folge, daß sie weniger verdient und der Mann mehr, daß er aber auch mehr bezahlt.)

– Unter den 1,6 Prozent der Reichsten in den USA (jenen mit einem Vermögen von 500.000 Dollar und mehr) ist das Nettoeinkommen der Frauen größer als das der Männer. (15)

Wie ist es möglich, daß so viele der Reichsten Frauen sind, wenn keine Spitzenposition der Wirtschaft von einer Frau besetzt ist? Teils weil sie Männer suchen, die diese Positionen innehaben und die sie dann überleben, teils weil sie weniger Zahlungsverpflichtungen haben und deswegen mehr ausgeben können … 

Über das Geld verfügen

Eine Untersuchung großer Einkaufspassagen (Bekleidungsgeschäfte für Männer und Sportartikelgeschäfte eingeschlossen) hat ergeben, daß den persönlichen Bedürfnissen von Frauen siebenmal soviel Verkaufsfläche gewidmet ist als denen der Männer (16). Beide Geschlechter kaufen mehr für Frauen. Der Schlüssel zum Reichtum ist nicht, was jemand verdient, sondern was jemand für sich selber ausgeben kann, nach eigener Wahl – oder was für einen ausgegeben wird, auf einen Wink hin. In jeder Konsumkategorie bestimmen Frauen weitgehend über die Ausgaben (17). Mit der Entscheidung, wofür Geld ausgegeben wird, gehen andere Machtbefugnisse einher. Die Macht der Frauen über den Geldbeutel gibt ihnen auch Macht über die Fernsehprogramme, weil diese von der Werbung abhängig sind. Zusammen mit der Tatsache, daß Frauen zu allen Tageszeiten mehr fernsehen (18) als Männer, erklärt dies, warum Fernsehsender es sich nicht leisten können, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Frauen sind dem Fernsehen das, was Arbeitgeber den Arbeitnehmern sind. Und das Ergebnis? Die Hälfte der 250 Fernsehfilme des Jahres 1991 stellen Frauen als Opfer dar – in „irgendeiner Weise physischer oder psychischer Mißhandlung unterworfen“ (19).

Zahlungspflichten

In Restaurants zahlen Männer rund zehnmal öfter für Frauen als umgekehrt – je teurer das Restaurant, desto häufiger zahlt der Mann (20). Oft sagen Frauen: „Nun, Männer verdienen mehr.“ Wenn aber zwei Frauen ein Restaurant besuchen, gehen sie nicht davon aus, daß die Frau, die mehr verdient, die Rechnung bezahlt. Die Erwartung an Männer, mehr für Frauen auszugeben, wird zur Pflicht zum Zahlen.

Sobald ich mit dem Gedanken spielte, mich mit Mädchen zu verabreden, wurde ich mir dieser Pflicht bewußt. Als Teenager hatte ich Spaß am Babysitting. (Ich mochte Kinder wirklich, aber es war auch die einzige Möglichkeit, dafür bezahlt zu werden, daß ich den Kühlschrank leer aß!) Dann kam ich in das Alter, in dem man sich mit Mädchen traf. Babysitting wurde aber leider nur mit fünfzig Cent die Stunde bezahlt, Rasenmähen dagegen mit zwei Dollar. Ich haßte Rasenmähen. (Ich lebte damals in New Jersey, wo wegen der Schwüle und der Insekten in der Mittagshitze Rasenmähen weit weniger angenehm ist als das Leeressen eines Kühlschranks.) Doch sobald ich anfing, mich mit Mädchen zu treffen, begann ich auch, mein Geld mit Rasenmähen zu verdienen.

Für Jungen ist das Rasenmähen eine Metapher dafür, daß sie bald lernen, Jobs anzunehmen, die ihnen weniger zusagen, die aber besser bezahlt werden. Etwa im ersten Jahr der High School fangen Jungen an, ihr Interesse an Fremdsprachen, Literatur, Kunstgeschichte, Soziologie und Anthropologie zu unterdrücken, weil sie wissen, daß Kunstgeschichte weniger lukrativ ist als Ingenieurwissenschaft. Es ist teils eine Folge der zu erwartenden Ausgaben (die Wahrscheinlichkeit, daß er eine Frau unterhalten muß und nicht davon ausgehen kann, von einer Frau unterhalten zu werden), daß 85 Prozent der Studierenden im Fach Ingenieurwesen Männer sind; über 80 Prozent der Studierenden im Fach Kunstgeschichte sind Frauen (21).

Der Einkommensunterschied zwischen der weiblichen Kunstgeschichtlerin und dem männlichen Ingenieur erscheint als Diskriminierung. Dabei wissen beide Geschlechter im voraus, daß Ingenieure besser bezahlt werden. Eine Frau jedoch, die als Anfängerin in diesem Beruf arbeitet, verdient durchschnittlich 571 Dollar mehr im Jahr als ihr männlicher Kollege (22).

Kurz, die Zahlungsverpflichtung, die einen Mann dazu bringt, sich für einen Beruf zu entscheiden, der ihm weniger zusagt, der aber besser bezahlt wird, ist ein Zeichen von Machtlosigkeit, nicht von Macht. Wenn er diesen Beruf ausübt, erwarten Frauen oft, daß er bezahlt, „weil er schließlich mehr verdient“. So verstärken die Erwartungen beider Geschlechter männliche Machtlosigkeit. 

Einfluß haben

Die katholische Kirche wird oft mit folgendem Satz zitiert: „Gebt uns ein Kind in den ersten fünf Jahren, und wir prägen es fürs Leben.“ Wir erkennen die Macht des Einflusses der Kirche über die Jugend an, wir leugnen aber oft die Macht des Einflusses einer Mutter über ihre Kinder – ihre Söhne eingeschlossen. Es ist die Mutter, die das Kind früher zu Bett schicken, ihm den Nachtisch wegnehmen oder es bestrafen kann, wenn es nicht gehorcht. Die Hand, die die Wiege bewegt, bereitet dem Kind den täglichen Himmel oder die tägliche Hölle.

Wenige Männer haben einen vergleichbaren Einfluß. Während der Mann theoretisch „Herr im Haus“ ist, fühlen sich die meisten Männer wie Besucher im Schloß ihrer Gattin, etwa so wie umgekehrt eine Frau sich als Besucherin vorkommt, wenn sie den Arbeitsplatz des Mannes betritt. Aus der Sicht der Frau ist das Haus eines Mannes sein Schloß, aus der Sicht des Mannes ist das Haus einer Frau seine Hypothek. Fast jede Frau steht in der „frauendominierten“ Familienstruktur im Mittelpunkt, aber nur ein kleiner Prozentsatz von Männern nimmt in den „männerdominierten“ Strukturen von Politik und Religion eine vergleichbare zentrale Position ein. Viele Mütter sind sozusagen die Vorsitzende einer kleinen Firma – ihrer Familie. Auch in Japan verwalten die Frauen die Finanzen der Familie – eine Tatsache, die den normalen Amerikanerinnen und Amerikanern erst bewußt wurde, als es 1992 zum Zusammenbruch der Börse kam und Tausende von Frauen Milliarden von Dollar verloren, von denen ihre Ehemänner gar nicht wußten, daß sie investiert worden waren (23). Im Gegensatz dazu arbeiteten die meisten Männer am Fließband ihrer Firma – entweder dem physischen oder dem psychologischen Fließband. 

Selbstbestimmung über das eigene Leben

Die Macht, zu beeinflussen, ist keine wirkliche Macht. Wenn wir Müttern sagen würden: „Je mehr Kinder, desto mehr Macht wirst du haben“, würden sie lachen. Wenn wir dann sagen würden: „Je mehr Kinder du hast, desto mehr wirst du von allen geliebt und geachtet“, würde sich die Mutter bedrängt fühlen, nicht mächtiger. Sagen wir aber Männern: „Je mehr Untergebene du hast, desto mächtiger bis du“, dann glauben sie es. Echte Macht entsteht nicht unter dem Druck von mehr Verantwortung, sondern aus der Bestimmung über das eigene Leben.

Historisch gesehen verbrachte ein Ehemann den Hauptteil seines Tages unter den Augen seines Chefs – seiner Einkommensquelle -, während eine Ehefrau nicht den Hauptteil ihres Tages unter den Augen ihres Ehemannes – ihrer Einkommensquelle – verbrachte. Sie hatte mehr Kontrolle über ihr Arbeitsleben als er über das seine. 

Sicherheit

Das Scheidungsverbot sicherte der Frau ihren Arbeitsplatz. Ein Mann an seinem Arbeitsplatz war ohne Sicherheit. Seine Einkommensquelle konnte ihn entlassen, ihre Einkommensquelle konnte sie nicht entlassen. Sogar heute noch bekommt er keine Abfindung, wenn er seinen Arbeitsplatz kündigt; wenn sie die Scheidung einreicht, bekommt sie die Hälfte des „gemeinsamen Besitzes“. 

„Mein Körper gehört mir“

Heute kann eine Frau mit einem Mann schlafen und fälschlicherweise behaupten, daß sie verhütet; sie kann dann das Kind aufziehen, ohne daß er überhaupt weiß, daß er ein Kind hat, und ihn sogar rückwirkend nach zehn oder zwanzig Jahren (je nach Bundesstaat) auf Unterhalt für das Kind verklagen. Das zwingt ihn in einen Job, der mehr Geld bringt, mehr Streß und insofern auch Verringerung seiner Lebenszeit bedeutet. Es ist sein Körper, aber er hat keine Wahl. Ihm bleibt nur ein Dasein als Sklave (für jemanden zu arbeiten ohne Bezahlung und ohne andere Wahl) oder als Krimineller. Der Fall Roe gegen Wade gab Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper. Männer haben das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper noch nicht – weder in der Liebe noch im Krieg. 

Anerkennung und Dankbarkeit

Der Fall Mike Tyson. Das Hotel, in dem die von der Öffentlichkeit abgeschirmten Geschworenen untergebracht sind, geht in Flammen auf. Zwei Feuerwehrleute sterben bei den Rettungsarbeiten.

Der Fall Mike Tyson sensibilisierte uns für den Mann-als-Vergewaltiger. Der Tod der Feuerwehrleute sensibilisierte uns nicht für den Mann-als-Retter. Wir haben dem einen Mann, der ein Verbrechen beging, mehr Beachtung geschenkt, als den zwei Männern, die Rettung brachten. Wir haben mehr den einen Mann beachtet, der eine Frau bedrohte, die aber noch lebt, als die vielen Männer, die Hunderten von Menschen des Leben retteten und von denen zwei starben.

In den USA riskieren fast eine Million städtische Feuerwehrleute freiwillig ihr Leben, um Fremde zu retten. Neunundneunzig Prozent davon sind Männer (24). Sie wollen dafür nichts weiter als Anerkennung. Sie werden nicht einmal zur Kenntnis genommen. 

Arbeitszwang

Die Medien verbreiten Studien, nach denen Frauen den größeren Anteil der Hausarbeit und der Kinderbetreuung leisten, und kommen zu dem Schluß: „Frauen haben zwei Berufe, Männer nur einen.“

Doch das ist irreführend. Frauen arbeiten mehr im Haus, Männer außer Haus. Im Durchschnitt hat der Mann längere Anfahrtswege und verbringt mehr Zeit mit Gartenarbeiten, Reparaturen und Malerarbeiten … Was kommt heraus, wenn alles zusammengezählt wird? Eine Studie der Universität von Michigan (veröffentlicht 1991 im Journal of Economic Literature) belegt, daß ein Mann im Durchschnitt einundsechzig Stunden pro Woche arbeitet, eine Frau sechsundfünfzig (25).

Ist das eine neuere Entwicklung? Nein. 1975 stellte die größte landesweite Zufallsuntersuchung von Haushalten fest, daß – die Kinderbetreuung, alle Hausarbeit, die Arbeit außer Haus, die Wegzeiten und Gartenarbeit zusammengenommen – Ehemänner 53 Prozent der gesamten Arbeit verrichten, Ehefrauen 47 Prozent (26). 

Der unbezahlte Leibwächter

Steve Petrix war Journalist und wohnte in San Diego in meiner Nachbarschaft. Er kam jeden Mittag nach Hause, um mit seiner Frau zu essen. Als er kürzlich heimkam, hörte er seine Frau schreien. Sie wurde mit einem Messer angegriffen. Steve kämpfte mit dem Angreifer. Seine Frau rannte weg, um die Polizei zu rufen. Der Eindringling brachte Steve um. Steve war 31 Jahre alt (27).

Einer meiner Freunde drückte es so aus: „Wieviel würdest du jemandem zahlen, der sich bereit erklärt, unverzüglich einzuschreiten, wenn du in seiner Gegenwart angegriffen wirst, und der versuchen würde, sich so langsam töten zu lassen, daß du fliehen kannst? Was verdient ein Leibwächter in der Stunde? Du weißt, daß das dein Job als Mann ist – immer wenn du mit einer Frau zusammen bist … mit irgendeiner Frau, nicht nur deiner Ehefrau.“(28)

Was haben Männer als persönliche Leibwächter von Frauen und Männer als Feuerwehrleute gemeinsam, abgesehen davon, daß sie Männer sind? Sie werden beide nicht bezahlt. Männer haben noch nicht angefangen, ihre unbezahlten Rollen zu untersuchen … 

Der Mann als „Neger“?

In den Anfangsjahren der Frauenbewegung führte ein Artikel in Psychology Today mit dem Titel „Frauen als Neger“ schnell dazu, daß feministische Aktivistinnen und Aktivisten (mich eingeschlossen) zwischen der Unterdrückung von Frauen und der von Schwarzen Parallelen zogen (29). Männer wurden als Unterdrücker geschildert, als „Herren“ und „Sklavenhalter“. Die Feststellung von Shirley Chisholm, einer schwarzen Kongreßabgeordneten, sie erlebe weit mehr Diskriminierung als Frau denn als Schwarze, wurde immer wieder zitiert.

Diese Parallele ermöglichte es, die hart erkämpften Rechte der Bürgerrechtsbewegung auf Frauen anzuwenden. Die Parallelen enthielten mehr als ein Körnchen Wahrheit. Doch was sich niemand von uns klarmachte, war, daß jedes Geschlecht auf unterschiedliche Weise Sklave oder Sklavin des jeweils anderen ist und deswegen kein Geschlecht der „Neger“ des anderen („Neger“ bedeutet eine einseitige Unterdrückung).

Hätten „Maskulinisten“ diesen Vergleich gezogen, hätten sie dafür ebensoviele Beweise bringen können wie Feministinnen. Der Vergleich ist hilfreich, weil wir uns erst dann ein klares Bild von der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung machen können, wenn wir verstehen, wie Männer auch die Diener der Frauen sind, und es daher ein Fehler ist, ein Geschlecht mit „Negern“ zu vergleichen. Erstens …

Schwarze wurden durch Sklaverei gezwungen, auf den Baumwollfeldern ihr Leben und ihre Gesundheit einzusetzen, damit Weiße davon ökonomisch profitierten; die Schwarzen hatten dafür mit der Verkürzung ihrer Lebenszeit zu zahlen. Männer wurden durch die Einberufung zum Militär gezwungen, ihr Leben auf den Schlachtfeldern aufs Spiel zu setzen; um des Gemeinwohls willen hatten diese Männer ebenfalls ein kürzeres Leben in Kauf zu nehmen. Der unverhältnismäßig hohe Anteil von Schwarzen und von Männern im Krieg erhöht die Wahrscheinlichkeit von posttraumatischem Streß, die Wahrscheinlichkeit, im zivilen Leben nach dem Krieg zu Mördern zu werden und früh zu sterben. Sklaven und Männer starben, um die Welt sicherer und friedlicher zu machen – für andere.

Sklaven wurden die eigenen Kinder gegen ihren Willen weggenommen; Männern werden die eigenen Kinder gegen ihren Willen weggenommen. Wir sagen den Frauen, daß sie ein Recht auf Kinder haben, und wir sagen den Männern, daß sie für Kinder kämpfen müssen.

Schwarze wurden durch Sklaverei in die gefährlichsten Berufe der Gesellschaft gezwungen; Männer wurden durch die Sozialisation in die gefährlichsten Berufe der Gesellschaft gezwungen. Beide, Sklaven und Männer, stellten in den „Todesberufen“ fast 100 Prozent. Männer tun es noch.

Als Sklaven ihren Sitzplatz für Weiße frei machten, nannten wir das Unterwürfigkeit; wenn Männer ihren Sitzplatz einer Frau anbieten, nennen wir es Höflichkeit. Ebenso nannten wir es ein Zeichen der Unterwerfung, wenn Sklaven aufstanden, sobald ihr Herr den Raum betrat; wir nennen es aber Höflichkeit, wenn Männer aufstehen, sobald eine Frau den Raum betritt. Sklaven haben sich vor ihrem Herrn verbeugt; in Kreisen der besseren Gesellschaft verbeugen sich heute noch die Männer vor den Frauen (30). Der Sklave half dem Herrn in den Mantel; der Mann half der Frau in den Mantel und tut es noch. Solche Zeichen von Ehrerbietung und Unterwerfung sind zwischen Sklaven und Herren und zwischen Männern und Frauen üblich.

Schwarze sind eher von Obdachlosigkeit betroffen als Weiße, Männer eher als Frauen. Im Gefängnis sitzen mehr Schwarze als Weiße und rund zwanzigmal mehr Männer als Frauen. Schwarze sterben früher als Weiße, Männer sterben früher als Frauen. Schwarze gehen seltener aufs College und weniger machen die Abschlußprüfung als Weiße. Männer gehen seltener aufs College als Frauen (46 Prozent zu 54 Prozent) und machen seltener einen Collegeabschluß (45 Prozent zu 55 Prozent). (31)

Die Apartheid zwang Schwarze, für die Weißen in den Minen nach Diamanten zu schürfen; wer „richtig“ zum Mann erzogen worden war, von dem darf man erwarten, daß er bereit ist, in „Minen“ zu arbeiten, um Frauen Diamanten kaufen zu können. Nie in der Geschichte gab es eine herrschende Klasse, die arbeitete, um sich Diamanten leisten zu können, die sie den Unterdrückten geben konnte, in der Hoffnung, dafür von ihnen geliebt zu werden.

Mehr Schwarze als Weiße melden sich freiwillig zum Kriegsdienst, weil sie Geld verdienen und einen Beruf erlernen möchten; mehr Männer als Frauen melden sich aus den gleichen Gründen freiwillig zum Kriegsdienst. Mehr jugendliche Schwarze als jugendliche Weiße lassen sich auf Boxen und den American Football ein – auch eine Art von Kindesmißhandlung – in der Hoffnung, dafür Geld, Anerkennung und Liebe zu ernten; auch mehr Männer als Frauen tun dies, in der gleichen Hoffnung. Frauen sind die einzige „unterdrückte“ Gruppe, die mit einem persönlichen Mitglied aus der „Unterdrückerklasse“ (Väter genannt) aufwächst, das draußen auf dem Feld für sie arbeitet. Traditionellerweise hatte die herrschende Klasse draußen auf dem Feld Leute, die für sie arbeiteten – man nannte sie Sklaven.

Unter den Sklaven wurde der Feldsklave als Sklave zweiter Klasse betrachtet, der Haussklave als Sklave erster Klasse. Die männliche Rolle (draußen auf dem Feld) ähnelt der des Feldsklaven – dem Sklaven zweiter Klasse; die traditionell weibliche Rolle (Haushaltsführung) ähnelt der des Haussklaven – dem Sklaven erster Klasse.

Schwarze Haushaltsvorstände haben ein viel niedrigeres Nettoeinkommen als weiße; männliche Haushaltsvorstände haben ein viel niedrigeres Nettoeinkommen als weibliche (32). Noch nie in der Geschichte hatte eine angeblich unterdrückte Gruppe ein höheres Nettoeinkommen als der Unterdrücker.

Es dürfte schwer sein, auch nur ein historisches Beispiel für eine Gruppe zu finden, die sich als Opfer bezeichnen konnte, während sie die Hälfte der Stimmberechtigten stellte. Oder ein Beispiel für eine unterdrückte Gruppe, die lieber ihre „Unterdrücker“ wählt, statt ein eigenes Mitglied dazu zu bewegen, die Verantwortung zu übernehmen und ins Rennen zu gehen. Frauen sind die einzige Minderheit, die eine Mehrheit ist, die einzige Gruppe, die sich als „unterdrückt“ bezeichnet, dabei aber darüber bestimmen kann, wer in ein Amt gewählt wird, und zwar in buchstäblich jeder einzelnen Gemeinde des Landes. Die Macht hat nicht die Person, die das Amt innehat, sondern die, die darüber bestimmt, wer das Amt bekommt. Welche Minderheit – Schwarze, Iren und Juden – hat jemals mehr als 50 Prozent der Stimmen in Amerika gehabt?

Frauen sind die einzige „unterdrückte“ Gruppe, die die gleichen Eltern hat wie der „Unterdrücker“; die genau so oft in die Mittel- und Oberklasse hineingeboren wird wie der „Unterdrücker“; die über mehr kulturellen Luxus verfügt als der „Unterdrücker“. Sie sind die einzige „unterdrückte“ Gruppe, deren „unbezahlte Arbeit“ sie in die Lage versetzt, für fast fünfzig Milliarden Dollar jährlich Kosmetika zu kaufen; die einzige „unterdrückte“ Gruppe, die mehr für Mode und Markenkleidung ausgibt als ihre „Unterdrücker“; die einzige „unterdrückte“ Gruppe, die zu allen Tageszeiten mehr fernsieht als ihre „Unterdrücker“ (33).

Feministinnen vergleichen die Ehe oft mit Sklaverei – die Ehefrau mit einer Sklavin. Es kommt einer Beleidigung der Intelligenz der Frauen gleich, zu behaupten, daß die Ehe für Frauen eine Sklaverei sei, wenn wir doch wissen, daß 25 Millionen amerikanische Frauen durchschnittlich zwanzig Liebesromane im Monat (34) lesen, die oft von Hochzeitsträumen handeln. Wollen die Feministinnen behaupten, daß 25 Millionen Amerikanerinnen „Versklavungsträume“ haben, weil sie von Heirat träumen? Ist das der Grund, warum Danielle Steel die meistgekaufte Autorin der Welt ist?

Nie gab es eine Sklavenklasse, die viel Zeit auf Träumerei über das Sklaventum verwandte und Bücher und Zeitschriften kaufte, die ihnen sagten: „Wie ich an einen Sklavenhalter komme.“ Entweder ist die Ehe für Frauen etwas anderes als Sklaverei, oder die feministische Seite unterstellt, Frauen seien ziemlich dumm.

Der Unterschied zwischen Sklaven und Männern ist, daß afroamerikanische Schwarze ihr Sklaventum selten für „Macht“ hielten, Männer aber gelernt haben zu glauben, ihr Sklaventum sei „Macht“. Wenn Männer wirklich Sklavenhalter wären und Frauen Sklavinnen, warum zahlen dann Männer ein Leben lang für die „Sklavinnen“ und die Kinder der „Sklavinnen“? Warum zahlen statt dessen die Frauen nicht für die Männer, so wie Könige von ihren Untertanen finanziert werden? Weil wir die Machtlosigkeit der Schwarzen einsehen, bezeichnen wir unser Verhalten ihnen gegenüber als „unmoralisch“, doch das, was wir Männern antun, wenn sie für uns töten, nennen wir immer noch „Patriotismus“ und „Heldentum“. Töten sie aber die falschen Menschen auf die falsche Art zur falschen Zeit, sprechen wir von „Gewalt“, „Mord“ und „Habgier“.

Wir haben eingesehen, daß wir den Schwarzen Unrecht angetan hatten.

Unsere Schuldgefühle führten zu Förderprogrammen und Sozialhilfeleistungen für Schwarze. Weil wir Männer als dominante Unterdrücker ansehen, deren Verhalten wir auf Machthunger und Gier zurückführen, haben wir wenig Schuldgefühle, wenn ihre Lebenserwartung niedriger ist. Weil wir Frauen für eine unterdrückte Klasse halten, weiten wir Privilegien und Vorteile, die für die Schwarzen gedacht sind, auf Frauen aus. Frauen – und nur Frauen -, die aus dieser Kompensation für Sklaverei ihren Vorteil ziehen, verhalten sich unmoralisch. Männer, die dabei mithelfen, sind besonders naiv.

Sind Männer denn altruistischer, liebevoller oder weniger machthungrig als Frauen? Nein. Beide Geschlechter versklaven sich gegenseitig, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

 

 

Quellen und Anmerkungen (stark gekürzt)

(1) Oder, wie es Marianne Grabrucker in ihrem Vorwort zu „Mythos Männermacht“ formuliert: Farrell „schafft kein neues Feindbild Frau, verlangt aber fairerweise, daß wir uns vom Feindbild Mann verabschieden.“

(2) siehe John Laffin, „“Brassey’s Battles…“, London 1986

(3) Monthly Vital Statistics Report, Band 38, Nr.5/ (4)-(6) ebd.

(7)-(9) Vital Statistics of the United States, Band 2, Teil A, 1991

(10)-(12) National Crime Survey Report Dezember 1990

(13) Time, 17.Juli 1989

(14) Statistical Abstracts of the USA, 1989

(15) International Revenue Service 1990

(16) Jacque Lynn Foltyn, „Feminine Beauty in American Culture“, Dissertation, University of San Diego 1987

(17) American Demographic, Januar 1992

(18) Nach A.C.Nielsen, 1984

(19) Newsweek, 11.November 1991

(20) laut eigenen Befragungen von Kellnern

(21) National Center for Education Statistics, 1989, 1990

(22) EMC Bulletin Nr. 99, Dezember 1989

(23) Los Angeles Times, 20.Juni 1992

(24) vgl. Interview mit J. Oddison vom 11.Februar 1992

(25) Journal of Economic Literature, Band 29, Juni 1991

(26) Martha Hill, „Patterns of Time Use in Time, Goods, and Well-Being“, University of Michigan 1985

(27) San Diego Union, 21.Mai 1988

(28) Men Freeing Men, Jersey City 1985

(29) Psychology Today, Band 3, Nr.5, Oktober 1969

(30) vgl. Lawrence Diggs, Tonbandkassette „Introduction to Men’s Issues“

(31) Digest of Education Statistics 1991

(32) Statistical Abstracts of the USA 1989

(33) nach A.C.Nielsen 1984

(34) Interview mit J. Markert, 18.Februar 1985

(35) vgl. Forbes, 6.Juli 1992

 

 

 

Der obige Artikel wurde Warren Farrell’s Buch „Mythos Männermacht“ entnommen, daß 1995 im Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main erschienen ist. Wir danken dem Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.

 

 

aus ICH 1/ 96