Meine abgebrochene Hausentbindung

 von N. N.

Ein Donnerstag im Winter 1991. Es ist jetzt Mittag und die Wehen sind inzwischen so stark, daß mir alles um mich herum egal ist, ich schreie. Die Stunden zuvor habe ich mit Wehensingen ganz gut überstanden bzw. lag ganz gemütlich in der Badewanne, während mir meine Hebamme und meine Freundin abwechselnd warmes Wasser über den dicken Bauch gegossen haben. Aber jetzt schreie ich. Der Muttermund ist acht Zentimeter geöffnet. Es fehlen also nur noch zwei Zentimeter. In den Wehenpausen höre ich die aufmunternde Stimme meiner Freundin: “Das machst du gut. Noch eine Stunde und dein Baby ist da.“ Ich schiele zur Uhr. Ab und zu helfen mir die beiden, mich auf die andere Seite zu drehen, ruckartig, um dem Baby zu helfen, besser in den Geburtsweg hineinzurutschen. Ich überlege, ob ich nicht vielleicht pressen sollte. Aber in dem Moment, wo ich`s tue, habe ich das Gefühl, daß es nicht gut wäre. Ich presse also nicht.

Die Hebamme kontrolliert die Herztöne des Babys noch mal. Ich kann die Anzeige sehen. Die Frequenz liegt bei 80; 120 bis 160 wären normal, das weiß ich aus den vielen Kontrollen der letzten Tage (der rechnerische Geburtstermin war überschritten und so mußte ich alle ein bis zwei Tage zu einer Gynäkologin zur CTG-Kontrolle). Jetzt sieht mich die Hebamme ernst an und sagt, daß die Geburt seit zwei Stunden nicht vorwärtsgegangen ist und daß sie nun abbricht. Sie fragt mich noch, ob ich enttäuscht sei, und erklärt, daß das wehenhemmende Mittel, das sie mir jetzt in den Arm spritzt, zur Hälfte mit Wasser verdünnt ist. Mir ist alles egal. Von mir aus hätte sie auch die volle Dosis spritzen können, ich wollte nur noch, daß die Schmerzen aufhören, ich hatte keine Kraft mehr und mir fehlte das Gefühl, daß es vorwärts ging.

Seit 23 Uhr hatte ich Wehen, anfangs regelmäßig alle fünf Minuten. Als sie einsetzten, war ich richtig böse, denn ich war totmüde und hätte den Nachtschlaf dringend gebraucht. Der Tag war anstrengend gewesen.

Meine erste Hebamme hatte mir erklärt, daß sie keine Hausgeburt mehr mit mir machen wird. (Sie dachte anfangs, das Baby würde schon am 5. Dezember kommen, da meine Nabelwerte – Maß in cm vom Schambein bis zum Bauchnabel – wohl so groß waren). So bin ich ratsuchend zu einer Freundin gegangen, und bei 20 kg Mehrgewicht gegen Ende der Schwangerschaft ist jeder Weg anstrengend. Sie kannte noch eine Hebamme, die Hausgeburten macht, so liefen wie also zur nächsten Telefonzelle und erklärten meinen Fall. Die Gynäkologin, die sich am Vormittag das Fruchtwasser angesehen hatte, hatte gesagt, daß, wenn der rechnerische Termin nicht wäre, sie denken würde, das Kind wäre noch nicht soweit (und der rechnerische Termin war auch gar nicht so sicher, da ich den genauen Termin der letzten Regel einfach vergessen hatte). Die andere Hebamme war bereit, mich zu übernehmen unter der Bedingung, daß ich nochmals mit meiner ersten Hebamme darüber spräche. So stiefelten mein Freund und ich wieder los, um dieses Gespräch zu führen, was mir nicht leicht fiel; ich begann auch zu zweifeln, ob eine Hausgeburt jetzt noch das Richtige sei. Sie bestand darauf, daß ich ihr eine Erklärung unterschreibe, in der sie mich auf die Risiken der Geburt übertragener Kinder aufmerksam machte und mich dringend an ein Krankenhaus verwies (was sie jedoch nicht daran hinderte, im Nachinein der anderen Hebamme vorzuwerfen, sie nähme ihr die Frauen weg und mir einen bösen Brief zu schreiben, in dem sie u. a. Geld von mir forderte – sie hatte mir zwanzig Zellstoffunterlagen für die Geburt gegeben). Zum Abschied gab sie mir noch eine Liste von fünf A-4-Seiten über die Maßnahmen, die man bei Besichtigung des Krankenhauses mit dem Arzt und den Hebammen absprechen kann. Als ich mir die Liste zu Hause durchlas, war mir sofort klar, daß sich in der Krankenhausroutine wohl kaum einer die Zeit nehmen würde, all diese „Extras“ mit mir vorher zu besprechen.

Wir aßen erst einmal Abendbrot, und ich brauchte diese Zeit, um mich zu entscheiden: Ich bleibe bei meiner Hausgeburt. So gingen wir anschließend gemeinsam zur nächsten Telefonzelle und vereinbarten den Sonnabend als Termin zum Kennenlernen mit Heike, der neuen Hebamme. Dann gingen wir nach Hause, fielen totmüde ins Bett und plötzlich waren die Wehen da und so stark, daß ich dachte: Oje, was soll das erst in einigen Stunden werden. (So, wie ich das gelesen hatte, mich in die Wehen „reinfallen“ zu lassen, ist mir das nicht gelungen.) Ich versuchte noch ein paar Stunden zu schlafen, aber so gegen drei Uhr wurde ich wach. Gegen vier Uhr weckte ich dann meinen Freund, er sollte einheizen und Heike anrufen …

Inzwischen hat Heike im Westberliner Urban-Krankenhaus angerufen, da sie dort schon gute Erfahrungen gemacht hatte (Zutritt zum Kreißsaal usw.). Aber als Mitglied der AOK Berlin-Ost hätte ich dort 40 % der Kosten zuzahlen müssen.(Ein Kaiserschnitt kostet rund 2.500 DM, ein Tag Krankenhausaufenthalt rund 500 DM, dazu noch die Kosten für das Baby …) Da wir aber seit Monaten immer an der Grenze von unserem Dispo-Kredit von 1.400 DM herumlavierten (Stromrechnung, Umzug, Möbelkauf usw.) will ich einfach keine weiteren Schulden machen, ich will meine Zeit und Kraft meinem Kind widmen können und mich nicht schon wieder mit Sorgen herumplagen müssen. Also melden wir uns telefonisch im nächstgelegenen Ostberliner Krankenhaus (Friedrichshain) an. Rasch sind meine Sachen gepackt. Ich schleiche die Treppen runter, während die Hebamme das Auto vorfährt. Im Auto wird mir auf einmal klar, daß, wenn es zum Kaiserschnitt kommen sollte, ich danach gar nicht gleich nach Hause kann. Die Krankenkassen bezahlen zwölf Tage, meint meine Hebamme, aber in der Regel ist man nach sieben Tagen soweit, daß man nach Hause gehen kann.

Im Krankenhaus werden wir schon erwartet, allerdings darf nur eine Person mit hinein, und nur weil ich darum bitte und die Schwester nett ist, darf neben dem Kindesvater auch meine Hebamme mitkommen – und die brauche ich. Denn kaum liege ich da, angeschlossen an Wehenschreiber und Ultraschall (zum Ausziehen der Kleidung hat man mir kaum Zeit gelasssen), geht die ganze Bürokratie los. Ich soll mir mehrere A-4-Seiten Kleingedrucktes durchlesen (Vertragsbindungen des Krankenhauses) und unterschreiben, was ich unter den wieder in voller Stärke einsetzenden Wehen weder kann noch will, worüber die anwesende Ärztin sichtlich verärgert ist. (Sie begnügt sich schließlich damit zu notieren: Frau nicht in der Lage zu lesen.) Danach werde ich nach allem möglichen gefragt, welche Krankenkasse, Krankheiten in der Familie, ob ich Masern hatte usw. Dann werde ich um mein Einverständnis zu verschiedenen medizinischen Maßnahmen gebeten, z. B. dem Ableiten der Herztöne vom Kopf des Kindes, einer Maßnahme für den Notfall. Ich will das nicht, denn meine Freundin hatte mir gesagt, daß man dazu ein Metallschräubchen in den Kopf des Babys bohrt und ich sehe, daß sich die Herztöne im Moment gut von außen ableiten ließen. Aber das auszufechten habe ich in den Wehenpausen nicht mehr die Kraft, ich sehe meine Hebamme an und jedesmal, wenn sie nickt, nicke ich auch. (Die Herztonsonde läßt sich zum Glück nicht richtig am Kopf meines Kindes anbringen und da ein Kaiserschnitt naheliegt, wird es auch kein zweites Mal versucht). Als mir der Arzt – es stellt sich mir nie jemand vor, ich werde erst im nachhinein verstehen, wer wer war – dann den Kaiserschnitt vorschlägt, bin ich sofort einverstanden, ich will diesen Schmerzen entrinnen …

Ich kann mich noch erinnern, daß ich dann einige Zeit mutterseelenallein in diesem Raum mit all den Geräten lag (meine Hebamme wurde hinausgeschickt und mein Freund sollte sich umziehen und kam nicht wieder). In dieser Zeit habe ich dann nochmals ganz laut geschrien, vor Schmerzen und aus Verzweiflung, in einem so schwierigen Moment ganz allein zu sein. Ich hatte nicht einmal die Kraft, an mein Kind zu denken, dem es ja genauso schlecht ging wie mir. Irgendwann wurde ich dann in einen anderen Raum gefahren, die Schamhaare wurden mir abrasiert und ich bekam eine Maske, zur Sauerstoffversorgung, wie mir ein Gesicht im grünen Kittel sagte, – Filmriß.

Die nächste Erinnerung ist die an einen langen Gang mit Neonlicht, das mich schrecklich blendete, ich wollte weiterschlafen, aber dieses grelle Licht hinderte mich daran. Auch mein Bauch tat furchtbar weh, sie hatten mir die Beine angewinkelt auf`s Bett gestellt und ich hatte nicht die Kraft, sie in dieser Position zu halten. Ich jammerte, daß mein Bauch wehtat und bat die Krankenschwester, die am Bettrand stand und auf irgendetwas wartete, mir zu helfen, mich auf die Seite zu drehen. Aber sie reagierte nicht. Weil ich aber nicht aufhörte zu jammern, sagte sie dann: „Probiern Sie`s doch mal, das schaffen Sie sowieso nicht“. So gab ich dann auf und nahm auf einmal die Stimme meiner Freundin war. (Sie hatte die ganze Zeit mit ihrem Mann und ihrem kleinen Kind im Gang draußen gesessen und gewartet.) Auch die bullrige Stimme eines Mannes. Es war derselbe, der mir den Kaiserschnitt vorgeschlagen hatte, also der Chefarzt. Sie schienen sich zu streiten, und ich hörte Gesprächsfetzen wie: Die Frau ist jetzt nicht entscheidungsfähig … die Narkose läßt erst nach sechs Stunden nach … das ist ja dann gegen 23 Uhr… Kommen Sie morgen wieder, aber nicht so zeitig …so gegen neun …

Dann wurde ich in einen Fahrstuhl geschoben und kam in ein Zimmer, das wiederum mit Neonlicht hell erleuchtet war und in dem, an den anderen beiden Betten, viel Besuch saß, der viel redete, was mich störte. Ich hatte nur den einen Wunsch: wieder in den Schlaf hinabzutauchen. Plötzlich tauchte mein Freund wieder auf, räumte meine Sachen in den Schrank, legte mir die Zahnbürste auf den Nachttisch und sagte mir ganz ergriffen, daß es ein kleiner Junge sei und er ihn im Arm gehalten habe. Ich fragte, wo er jetzt wäre. Eine Etage tiefer, sagte er, und wurde auch schon von der Schwester verabschiedet. Sie half mir endlich in die Seitenlage und war auch so nett, die Neonlampe über meinem Kopfende auszuschalten, deren Schalter sinnigerweise so hoch angebracht war, daß eine im Bett liegende Person nicht herankam. Sie ging, doch ständig kam jemand herein, der dieses Licht wieder einschaltete, um mir eine Spritze etc. zu geben. So schielte ich ständig mit einem Auge zur Tür, ob nicht jemand hereinkam, den ich bitten konnte, dieses gräßliche Licht über mir auszuschalten. Zu den Personen hinter mir konnte ich mich nicht umdrehen und laut sprechen konnte ich auch nicht, ich war durch die Narkose total heiser.

Als ich aufwachte, war der ganze Besuch verschwunden, und meine beiden Zimmergenossinnen bekamen gerade ihre beiden Babys zum Anlegen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, auch nach meinem Baby zu verlangen. Ich hörte der Krankenschwester zu, die mir erzählte, daß ich das Baby nicht meiner Schwester (ich wunderte mich, denn ich habe keine Schwester) mit nach Hause geben soll, daß es viel wichtiger sei, daß das Baby bei der Mutter sei und daß ich, wenn ich nach vier Tagen in ein Rooming-in-Zimmer verlegt werde, mit Sicherheit totunglücklich sei, ständig die Babys der anderen Muttis vor Augen zu haben. Das leuchtete mir ein.

Gegen drei Uhr morgens weckte mich die Nachtschwester zum Waschen mit den Worten: “So, junge Mutti, wir versuchen jetzt zusammen aufzustehen“. Da hätte ich bald geheult. Stimmt ja, erinnerte ich mich, du bist ja jetzt Mutter, du hast ja ein Kind zur Welt gebracht und hast es noch nicht einmal gesehen. Gegen fünf wurden die Babys zum Stillen gebracht. Da lag ich nun und hielt ein kleines Paket im Arm. Das war mein Baby: Max. Aber es trank nicht, und ich konnte es so kurz nach dem Kaiserschnitt allein nicht hochheben und besser anlegen. Ich besah mir das kleine und noch ziemlich rote Gesicht. Es sah mich nicht an und es schielte stark, so daß ich dachte, mit meinem Kind stimmt was nicht. Ich wollte mir seine Fingernägel anschauen, um zu sehen, ob es denn nun übertragen sei, aber es wollte seinen beiden kleinen Fäustchen gar nicht öffnen. Das machte mich traurig. Nach einer Viertelstunde ungefähr erschien die Kinderkrankenschwester wieder und holte die Babys wieder ab. Obwohl ich darum bat, durfte ich es nicht noch ein bißchen länger behalten.

Gegen acht war Chefarztvisite. Ich war die abgebrochene Hausentbindung. Und ich wollte meiner Schwester das Kind mit nach Hause geben. (Das war sogar auf dem Krankenblatt am Fußende des Bettes vermerkt). Sie sagten zu mir, daß der Hautkontakt für das Baby ihrer Meinung nach nicht so wichtig sei wie der Kontakt zur Mutter, und die Kinderkrankenschwestern hätten Anweisung bekommen, mir das Kind zu bringen, sobald ich es nur wünschte. Und schon waren sie am nächsten Bett. Aber mich interessierte noch, warum es zum Kaiserschnitt gekommen sei. So fragte ich, ob es daran lag, daß der Kopf des Kindes zu groß gewesen sei. Nein, er hatte die Nabelschnur zweimal um den Hals. Und weg waren sie, bevor ich fragen konnte, warum sich denn ein Baby die Nabelschnur um den Hals wickelt.

Zwischendurch hörte ich von draußen ein ganz lautes Weinen. Ob das mein Baby ist, fragte ich mich. Quatsch, entschied ich, hier gebt es bestimmt so viele Babys, warum sollte das gerade deines sein. Um neun bekamen wie die Babys wieder zum Stillen. Der Max hat schon ganz laut nach seiner Mami verlangt, sagten sie mir. Ich hatte gleich ein schlechtes Gewissen, daß mir das Weinen vorhin so egal gewesen war. Als sie die Babys wieder einsammelten, bat ich wieder umsonst darum, ihn noch ein bißchen behalten zu dürfen. Und da entschied ich: Wenn mein Freund und meine Freundin Birgit kommen, dann ist es besser, sie nehmen Max mit nach Hause, dort kümmert sich jemand um ihn, wenn er weint. Außerdem würde meine Freundin ihn stillen. Ich nahm mir vor, schnell gesund zu werden. Als mein Freund und meine Freundin dann eine halbe Stunde später kamen (der Papa hatte in der Aufregung vergessen, Babysachen mitzunehmen und meine Freundin mußte schnell noch was zusammensuchen), sagte ich zu meinem „Schwesterherz“, daß ich einverstanden sei. So mußten wir nur noch die Kinderärztin ausfindig machen. Birgit hatte gestern schon lange mit ihr diskutiert, warum sie das Neugeborene unbedingt zu sich nehmen wollte. Sie wollte, daß es sich geborgen und willkommen in dieser Welt fühlt und nicht vor Einsamkeit in seinem Körbchen schreit. Nach einigem Hin und Her willigt die Ärztin ein. Wir unterschrieben ihr eine Erklärung, daß das Baby auf unseren Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen wird.

Die nächsten Tage kamen mir vor wie eine kleine Ewigkeit, ich hatte plötzlich eine ganz andere Zeitrechnung: Der Tag, an dem mir der Tropf abgenommen wurde, der Moment, in dem ich mich erstmals ohne fremde Hilfe von einer Seite auf die andere drehen konnte, der Tag, an dem ich meine Blase wieder unter Kontrolle hatte, der Tag, an dem ich erstmals allein aus dem Bett aufstehen konnte, als ich endlich etwas trinken durfte, als ich wieder auf die Toilette gehen konnte und auch wieder etwas essen durfte (ich hatte Appetit auf die Paprika- und Gurkenstückchen, die zur Garnierung neben der Wurst lagen, aber die Schwester konnte mir nur je ein Stückchen davon geben, da für die anderen Zimmer auch noch was übrig bleiben sollte), der Tag, an dem ich endlich duschen konnte usw. Das Netteste am Krankenhaus waren wirklich die Krankenschwestern. Die Ärzte sah man selten, und wenn, so hatten sie kaum Zeit, auf Fragen zu antworten.

Ich bekam auch täglich Besuch von meinem Freund und meiner „Schwester“. Jeden Tag sahen die beiden müder aus, denn Max trank zwar bei meiner Freundin, aber er weinte sehr viel. Aus „hygienischen Gründen“ durfte das Baby nicht ins Krankenzimmer hinein und so ging ich am Sonnabend im typischen Kaiserschnittschleichgang zum ersten Mal in den Besuchervorraum und hielt dort mein Baby im Arm. Ich war ganz stolz, ihn nicht wie die anderen Babys eingewickelt zu wissen, von denen man nur das Köpfchen und die Hände sah und die man auch nicht auswickeln durfte. (Die beiden anderen Babys in meinem Zimmer hatten beide auch eine ziemlich große und häßliche Beule am Kopf, vermutlich von der Herztonsonde.) Und ich freute mich auch schon auf den Moment zu Hause, wo ich mein Kind ausziehen würde und so richtig von oben bis unten bewundern könne. Nur mit dem Stillen klappte es an diesem Tag nicht. Ich hatte sonst immer, wenn meine beiden Zimmernachbarinnen ihre Kinder zum Stillen bekamen (und die Kinderkrankenschwestern umklammerten dabei mit eisernem Griff die kleinen Köpfchen unnachgiebig und drückten das Kind, ob es wollte oder nicht, auf die mütterliche Brustwarze), abgepumpt, nur heute nicht, da ich die Milch für mein Baby „aufheben“ wollte. Die Folge war, daß die Brust gegen nachmittag so voll und steinhart war, daß Max mit seinem kleinen Mündchen die Brustwarze gar nicht fassen konnte. Er weinte und ich gab ihn enttäuscht meiner Freundin, bei ihr trank er und wurde ruhig.

Der Sonntag war der Tag, an dem ich meine letzten Spritzen bekam und das war gut so, denn länger hätte ich die ganze Spritzerei auch nicht mehr vertragen. Sie nahmen mir endlich die Kanüle ab, die noch immer in meiner Armvene steckte. Ich war endlich wieder Herr über meinen eigenen Körper. Nur abends dann, als ich schon schlief, stürzte auf einmal ein grüner Kittel an mein Bett und griff nach meinem Arm. Eine Krankenschwester hätte bestimmt vorher wenigstens gesagt: Also Frau N., es tut uns leid, aber wir müssen die Kanüle nochmal in die Vene stechen. Und ich hätte das auch noch ertragen. Aber so fing ich an zu heulen, unter der Bettdecke. Der ganze Kummer kam hoch, ich wollte nur noch nach Hause. So bat ich dann um Entlassung auf eigenen Wunsch.

Ganz wohl war mir dabei nicht, schließlich hatte ich noch immer leichte Temperatur und die Krankenkasse hätte die Bezahlung einer erneuten Behandlung ablehnen können, da ich vorzeitig und entgegen ärztlichen Rat das Krankenhaus verließ. Aber meine Freunde kümmerten sich ganz lieb um mich: Die Jutta wusch meine Wäsche mit und um das Einkaufen und Kochen kümmerte sich mein Freund. Meine Hebamme war auch gleich am Montag nochmal gekommen, um nach mir zu sehen. Sie empfahl mir Bettruhe und meinte auch, daß die Narbe nicht sehr schön vernäht sei. Sie sah täglich nach mir und machte genau das, was ich brauchte: Sie lobte mein Baby: Daß es kräftig sei und schöne große Hände habe; und das der Stuhl genauso riecht, wie es sein soll, nach „Milchfabrik“; und daß es aussehe, wie ein Baby, das schon zwei, drei Monate älter sei, und daß es schon ganz allein sein Köpfchen halten könne usw. So war ich dann überzeugt, ein ganz besonderes Baby zu haben. Denn am Anfang war ich ein bißchen enttäuscht darüber, daß mir mein Kind sowenig ähnelte (Ich hatte im Stillen erwartet, es müsse so aussehen wie ich). Ich verstand auch nicht ganz, wo dieses, wie mir schien, große Kind denn nun auf einmal herkam. Vielleicht war es am Ende gar nicht meines. Ich fühlte mich auch ziemlich als Versagerin, die Geburt am Ende nicht allein zu Ende gebracht zu haben, und ich war jedesmal richtig neidisch, wenn mir eine Hebamme erzählte, daß sie heute schon wieder eine Hausgeburt hatte. Über die häßliche Narbe ärgerte ich mich auch, bis zu dem Moment, in dem mein Söhnchen, der kleine Kerl, im Schlaf lächelte, so richtig verschmitzt, zweimal lachte er richtig mit Vibrationen, wie jemand, der aus vollem Halse lacht – es fehlte nur die Stimme. Von da ab war ich ausgesöhnt mit meinem Schicksal , der Kaiserschnitt war mir egal geworden, und ich begann dieses kleine Wesen in meinen Armen richtig zu lieben.

Damit ist die Geschichte nicht ganz zu Ende. Vier bis sechs Wochen später fing Max an, stundenlang zu schreien, ohne daß man ihn trösten konnte. Das einzige, was manchmal half, war, ihn in die Luft zu werfen und aufzufangen, aber dann hielt er eher vor Schreck im Weinen inne. Wenn er schrie, dann machte er sich ganz steif, so daß, wenn man ihn nur unter den Armen hielt, die Füße in der Waagerechten lagen. Ich traute mich auch nicht mehr, zu Verwandten zu fahren, nachdem er dort zwei Nächte hintereinander von ca. 22 Uhr bis ein Uhr morgens durchgeschrien hatte. Auch zu Freunden traute ich mich nur noch kurze Zeit, denn, wenn er einmal anfing, ohrenbetäubend zu schreien, dann mußte ich mit ihm gehen. Anders ließ er sich nicht beruhigen. Sogar zuhause hielten wir zwei es nicht lange aus. Er fing schnell an zu meckern, und ich versuchte, soviel wie möglich mit ihm spazierenzugehen. Aber es war Winter. Ich konnte mich mit ihm ja nicht nur auf der Straße aufhalten.

Ich war bald am Verzweifeln, denn ich versuchte doch, alles richtig zu machen. Mein Kind mußte nicht allein schlafen. Sondern es schlief mit mir in meinem Bett. Es wurde gestillt und viel am Körper getragen, ich benutzte keinen Kinderwagen, sondern ein Tragetuch. Und trotzdem war mein Kind ein regelrechtes Schreikind geworden. Außerdem ließ es sich schwer im Tragetuch tragen, denn so klein er auch war, stemmte er sich doch mit aller Kraft dagegen, so daß es keinen Spaß machte, ihn zu tragen. In dieser Zeit stritten mein Freund und ich uns auch sehr viel. Einmal sogar, als Max nicht einschlafen wollte und ich aber hundemüde war, verspürte ich große Lust, dieses schreiende Bündel aus dem Fenster zu werfen, nur um endlich Ruhe zu haben.

So kann das nicht weitergehen, dachte ich mir, deshalb hast du doch kein Kind bekommen. Ich war heilfroh, von meiner Freundin zu hören, daß es in Westberlin jemanden gibt, der sich speziell mit der Beziehung zwischen Mutter und Neugeborenem beschäftigt (Orgontherapie mit Neugeborenen und Kleinkindern). Ich rief an bei Thomas Harms und wir vereinbarten, mit dem Max eine mehrwöchige Therapie zu machen, in deren Verlauf er nach und nach lernte, sich wieder zu öffnen, Vertrauen zu fassen und auf mich zu reagieren.

Die Therapie ähnelt der Akupressur ein bißchen, wird durch ganz sanfte Babymassagen unterstützt, und dem Kind wird ermöglicht, sich alle Angst und Schrecken von der Seele zu weinen. Und besonders die ersten Male schrie er sehr schlimm und lange, war danach aber, anders als sonst, ganz entspannt. (Es war das gleiche verzweifelte Weinen wie im Krankenhaus unmittelbar nach dem Kaiserschnitt, deswegen wollte meine Freundin ihn da auch rausholen. Mein Freund erzählte mir hinterher, daß man Max dort mit den Füßen nach oben in den Nachbarraum getragen hat und ihn auch künstlich beatmen mußte.)

Ich sah, wie Max sich nach und nach veränderte. Vorher hatte er immer nur geschrien, jetzt liefen auf einmal beim Weinen Tränen aus den Augen. Manchmal hörte man aus dem Weinen regelrecht eine große Trauer heraus. Ich war ein bißchen erschüttert, daß so ein kleines Wesen schon so einen riesengroßen Kummer haben konnte. Jetzt fiel mir auch auf, wie steif er sich vorher bei meinen Babymassagen immer gemacht hatte, er hatte mir nie sein Ärmchen überlassen, sondern winkelte es immer an, wenn ich es zur Massage strecken wollte. Ebenso die kleinen Finger. Auch überstreckte er jetzt nicht mehr den Rücken nach hinten. Und vor allem, das Schönste war, er reagierte jetzt auf mich, wenn ich ihn beruhigen wollte. Er ließ sich jetzt auch viel angenehmer im Tragetuch tragen und kuschelte sich an mich, was vorher nicht der Fall gewesen war. Ich bekam nach und nach ein Gefühl dafür, warum er jeweils weinte und konnte entsprechend darauf reagieren. Ich wurde meine Angst los, mein Kind könne jeden Moment anfangen, grundlos zu schreien und isolierte mich nicht mehr. Ich begann wieder, mit Max zusammen Freunde und Verwandte zu besuchen und dort auch über Nacht zu bleiben.

Im Nachhinein möchte ich zu meiner abgebrochenen Hausgeburt sagen, daß ich es trotzdem nicht bereue, versucht zu haben, zu Hause zu entbinden, da ich im Krankenhaus nie die menschliche Wärme und Geborgenheit gespürt habe, die eine Geburt zuhause begleiten können. Aber ich hätte über die Achtungszeichen, die es gab, nicht hinwegsehen dürfen. Ich hatte mich in den Monaten zuvor viel mit Schwangerschaft und Geburt beschäftigt und hielt es für viel zu wichtig, meinem Kind einen guten Start ins Leben zu geben, als daß eine schlechte CTG mich davon hätte abringen können.

Ich bin nach wie vor überzeugt davon, daß die Art und Weise, in der ein Mensch auf dieser Welt empfangen wird, großen Einfluß auf sein späteres Leben hat. Auf jeden Fall aber, das habe ich mir für die nächste Schwangerschaft fest vorgenommen, werde ich mir durch nichts und niemanden Streß machen lassen. Das ist, glaube ich, der beste Weg, eine Nabelschnurumschlingung zu vermeiden. Und ich würde wieder eine Hausgeburt probieren, denn das Trauma, das Max fast zum Schreikind hat werden lassen, möchte ich meinem nächsten Kind ersparen (falls ich noch eins bekommen sollte, in diesen Zeiten).

 

aus ICH 2/ 94