Kindersoldaten in Mozambique. Möglichkeiten der Traumatherapie

von Antje Cyrus

Mozambique erlangte erst 1974 seine Unabhängigkeit von Portugal und verstaatlichte daraufhin Schlüsselsektoren von Wirtschaft und Infrastruktur – ein Modell, daß die benachbarten Apartheidstaaten Rhodesien und Südafrika als eine Gefährdung ansahen. In Rhodesien wurde die antimozambiquanische Rebellenbewegung RENAMO gegründet und unterstützt. 17 Jahre Bürgerkrieg folgten. Wie in jedem Krieg gehörten auch in Mozambique die Kinder zu den hilflosesten Opfern. Im Herbst 1994 schätzte ein Papier der UNICEF die Zahl der verwaisten, verlassenen und traumatisierten Kinder in Mozambique auf eine halbe Million.

Die Psychologin Antje Cyrus begleitete im Frühjahr 95 zwei Monate lang die Mitarbeiter eines Projektes, das versucht, diesen Kindern zu helfen. Im folgenden Beitrag bemüht sie sich um einen sachlich gehaltenen Rückblick auf Vorgänge und Zustände, deren emotionale Dimensionen für Außenstehende kaum zu fassen sind.

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Hier in Deutschland würde man dieses in Maputo ansässige Projekt wahrscheinlich „psychosozial“ nennen: Es umfasst Mozambiquaner verschiedener Heilberufe. Der Psychologe Boia Efraime Jr. leitet es, Pädagogen, Mediziner, Spiel- und Sporttherapeuten arbeiten mit. Sitz des Projektes ist die mozambiquanische Hauptstadt Maputo, wo übrigens auch die einzige Psychiaterin des Landes, Frau Dr. Custodia Manddhlate, zu finden ist.

Der Weg von Maputo in die vom Krieg besonders betroffenen Dörfer führt meist durch unwegsames, oft vermintes Gelände. Ein Geländewagen steht dem Projekt nicht zur Verfügung. Das Fahrzeug, mit dem man sich behelfen muß, bleibt oft in Wasserlöchern stecken. Verspätungen sind die Folge und manchmal geplatzte Verabredungen mit den dörflichen Autoritäten. Aber ohne diese Autoritäten – Priester, Dorfsekretäre, Heiler – ist kein Kontakt zu den Gemeinden herstellbar. Gut funktioniert diese Zusammenarbeit in der Gegend von Ilha Josina (nördlich von Maputo). Hier ist eine Selbsthilfeinitiative entstanden: Der Dorfsekretär stellte Land zur Verfügung, das die Kinder, die Opfer des Krieges geworden sind, bearbeiten können. Das Land ist sehr fruchtbar, aber im Krieg war es „strategisch wichtig“. Die zurückgebliebenen Landminen machen einen Großteil der Ackerfläche unbenutzbar. Dazu fehlten bis vor kurzem noch Kühe, um das Feld zu bearbeiten. Die Eltern und Familien der Kinder und Jugendlichen waren bereit, bei der Feldarbeit zu helfen, hätten jedoch lange sparen müssen, um die Tiere zu kaufen. Ich war dabei, als Mitarbeiter unseres Projektes der Initiative zwei Kühe zum Geschenk machten: Das wurde vom ganzen Dorf gefeiert.

Der Arbeitsschwerpunkt des Teams liegt auf psychosozialer Betreuung und Unterstützung der kriegstraumatisierten Kinder, wozu wenn nötig auch spezielle Traumatherapie gehört, ebenso Gruppenspiele und szenische Darstellungen. Mit selbstgebauten Masken drücken die Kinder tänzerisch aus, was sie bewegt und bedrückt. Sehr beliebt sind Sportspiele: Die körperliche Bewegung und das Gemeinschaftsgefühl dabei ist den Kindern wichtig. In den betreuten Dörfern reden die Mitarbeiter des Projektes aber auch mit den Kindern, einzeln oder in Gruppen. Häufig ist dies das erste Mal, daß mit ihnen über ihre Kriegserlebnisse gesprochen wird. Eltern und Lehrer meiden Gespräche über den Krieg. Das hat oftmals einen besonderen Grund: Viele Kinder wurden Opfer, indem man sie zu Tätern machte.

Tausende Kinder wurden von der RENAMO entführt und durch systematisches Aushungern, Schläge und Drohungen zu Kindersoldaten abgerichtet. UNICEF spricht davon, daß 64 % der Kinder auf diese Weise ihren Eltern entrissen wurden und 28 % von ihnen zu brutalen Kriegshandlungen gezwungen wurden.

Der dabei vollzogene Bruch mit sozialen Tabus ist kaum noch zu steigern: Die Kinder wurden vielfach zum Töten der eigenen Eltern, Verwandten oder anderer ihnen nahestehender Personen gezwungen. Es gab solche schrecklichen Situationen, daß man Eltern zusicherte, ihre Kinder am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Die Kinder sollten zuvor ihre Eltern umbringen. Und die Eltern baten ihre Kinder, sie zu töten.

Tausende von Kindern erlitten solche schweren Traumata. Viele Kinder starben in Kampfhandlungen, an Krankheiten, durch Folter und Unterernährung. Die Kindersoldaten, die heute noch leben, waren die stärksten und anpassungsfähigsten. Aber woran haben sie sich angepaßt?

Raub, Mord und Vergewaltigungen gehörten zum Kriegsalltag, sie wurden befohlen. Wer sich widersetzte, zu fliehen versuchte oder Gefühle zeigte, wurde schwer bestraft. Jetzt müssen die Überlebenden lernen, wie man in einer friedlichen Gemeinschaft zusammenlebt. Oft reicht die Kraft dieser Gemeinschaft nicht aus, um solche Kinder und Jugendliche zu integrieren, spezielle Traumatherapie und „Friedenserziehung“ wären notwendig.

Die folgenden Geschichten zweier Kinder illustrieren kriegstypische Erlebnisse.

Alberto weiß nicht, wie alt er ist. Seine Familie verließ ihr Dorf auf der Flucht vor der RENAMO. Sie versteckten sich im Wald und wurden von den Soldaten entdeckt, weil das Baby weinte. Die RENAMO brachte sie in ein militärisches Lager, wo die Familie getrennt wurde.

Der Vater überlebte das Lager nicht. Auch die Mutter wurde von den Soldaten getötet. Von seinen sechs Geschwistern weiß Alberto nicht, ob sie noch leben und wo sie sich aufhalten. Albertos Fluchtversuch aus dem Lager und vor seiner gewaltsamen Ausbildung zum Soldaten mißlang. Er selbst beschreibt dieses Erlebnis wie folgt:

„Ich weiß nicht mehr, ob es im Jahr 1983 oder 1984 war. Nach einiger Zeit in der Gefangenschaft versuchte ich zu fliehen, aber sie haben mich erwischt. Sie brachten mich zurück in den Stützpunkt, sie haben mich geschlagen und mir dabei ein Bein gebrochen und hingen mich danach an einem Bein und mit dem Kopf nach unten an einem Baum auf. Seitdem bin ich gehbehindert.“

Obwohl die Zeit des Krieges schon lange vorbei ist, kehren die entsetzlichen Erlebnisse in Alpträumen zu Alberto zurück. Er leidet an Schlaflosigkeit und das Geschehene überfällt ihn auch in Tagträumen.

Dieses ständige Wiedererlebenmüssen der traumatischen Situation ist das Hauptsymptom für das sogenannte „Posttraumatische Stress Syndrom“: Wie vor einem inneren Auge spielt sich immer wieder der gleiche schreckliche Film ab. Als Folge dieser unerträglichen Wiederholung werden Teile der Persönlichkeit unterdrückt; eben gerade jene, die das Kindliche ausmachen: Lust am Leben, Naivität, Spontanität, die Überzeugung, daß die Welt schön und interessant sein kann, daß man geliebt und geschützt wird, Vertrauen zu Erwachsenen. All das und noch anderes, wie Lachen, Scherzen, Weinen, Trotzen muß von diesen Kindern verdrängt und abgekapselt, „eingemauert“ werden, um psychisch weiterleben zu können. Man kann auch sagen, daß sie sich in einer pathologischen Frühreife befinden. Wenn ehemalige Kindersoldaten Tonfiguren formen, sieht man fast ausschließlich Kämpfer.

Eva war zum Zeitpunkt unserer Unterhaltung acht Jahre alt. Sie war nach dem Tod ihrer Mutter von der Polizei in ein Kinderheim gebracht worden, da es aufgrund des Krieges nicht möglich war, irgendwelche erwachsenen Verwandten zu finden. Eva ist die älteste von drei Geschwistern. Ihr Bruder und ihre Schwester lebten einige Zeit mit ihr zusammen im Kinderheim, bis sie adoptiert wurden. Zu erleben, daß sie von ihren Geschwistern getrennt wurde, war für Eva eine traumatische Situation, die sich an zuvor Erlebtes anschloß.

Evas Vater arbeitete in Südafrika. Ihre Mutter war Bäuerin. Da Eva noch nicht zur Schule ging, half sie der Mutter bei der Hausarbeit. Beide wurden gemeinsam mit Evas Geschwistern von der RENAMO entführt.

Eva und ihre Mutter sind sexuell mißbraucht worden. Die Mutter verstarb im Krankenhaus an Erschöpfung und an den Folgen des Mißbrauchs, wenige Wochen nachdem sie sich und ihre Kinder mit letzter Kraftanstrengung dorthin geschleppt hatte. Ob Eva Zeuge der Vergewaltigung ihrer Mutter war, ist nicht festzustellen. Sie erzählt nie über ihre Erlebnisse. Lediglich durch eine ärztliche Untersuchung ist bekannt, daß sie mißbraucht wurde. Als Grund für den Tod ihrer Mutter nennt sie Kopfschmerzen.

Das Projekt, an dem ich teilnehmen konnte, versucht, sich diesen Problemen interdisziplinär zu nähern, schon bedingt durch die Mitwirkung verschiedener Berufsgruppen. „Interdisziplinär“ hat hier jedoch noch eine weitergehende Bedeutung: Es schließt die Zusammenarbeit mit traditionellen Heilern und Heilerinnen ein. Oft können diese mit ihrer tiefen Lebensweisheit gerade da helfen, wo europäische Methoden versagen.

Ein Beispiel dafür ist die Geschichte eines Jugendlichen, der lange Zeit als Soldat an Kampfhandlungen beteiligt gewesen war und dabei auch seine eigenen Eltern ermordet hatte. Er wurde von Alpträumen gequält, in denen ihm die von ihm getöteten Personen erschienen. Als er einen Heiler um Hilfe bat, machte dieser ihm das Angebot, in Trance Verbindung zu den Verstorbenen herzustellen. Dieser Kontakt kam zustande, die Eltern des Jungen sprachen durch den Heiler mit ihm. Sie verziehen ihm seine Schuld und forderten ihn auf, die hinterbliebenen Verwandten der Opfer zu unterstützen. Indem er dies tat, konnte der Junge seine Alpträume überwinden.

Für den Heilungserfolg ist es völlig gleichgültig, ob der Kontakt zum „Jenseits“ real war oder nicht, ich würde jedoch sagen: Im mozambiquanischen Kulturkreis war er real, von Deutschland aus betrachtet, dürfte er vielen eher als eine besondere Variante von „Übertragung“ erscheinen, die der Heiler als „Elternstellvertreter“ herzustellen vermochte.

Es zeigt sich hier – am Beispiel der Zusammenarbeit des europäisch geschulten Teams mit den Vertretern überlieferter Heilmethoden – eine große Chance: die Entwicklung einer völlig neuartigen Psychotherapie. Durch Respekt voreinander kann wechselseitige Hilfe und Befruchtung stattfinden.

 

aus ICH 3/ 95