Keine Behandlung in Reinkultur. Die „Notizenmethode“

von Ernest Pickworth Farrow

E. P. Farrow war Ingenieur und Ökologe. Die Psychoanalyse zog ihn an, seine Therapeuten weniger. Als Konsequenz entwickelte er eine eigene „Methode, unnötige Ängste und Depressionen abzubauen“ und bearbeitete mit ihrer Hilfe erfolgreich u. a. den sexuellen Mißbrauch und die körperlichen Züchtigungen, die ihm als Kind widerfahren waren.

Als Farrows Erfahrungsbericht 1926 erstmals veröffentlicht wurde, bescheinigte ihm Sigmund Freud im Vorwort: „Der Verfasser ist mir als Mann von starker und unabhängiger Intelligenz bekannt … Seine Resultate verdienen gerade wegen der Besonderheit seiner Person und seiner Technik Beachtung.“

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Erfahrungen mit dem ersten Analytiker

Von seinem ersten Analytiker wurde der Verfasser etwa drei Monate lang behandelt; er ging an fünf Wochentagen jeweils für eine Stunde zu ihm. Die analytische Arbeit ließ rasch eine Reihe von bedrückenden Schwierigkeiten sichtbar werden, die der Verfasser ordnend zu klären wünschte. Er machte sich daher zu Hause Notizen, die er später mit dem Analytiker besprach und zu denen er sich während der Behandlungsstunde weitere Gedanken einfallen ließ. Damit war der Analytiker allerdings nicht einverstanden; er drängte ihn, sich statt dessen eine »Behandlung in Reinkultur« angedeihen zu lassen. Damit meinte er offenbar den von Freud entwickelten Behandlungsstil, den andere Analytiker mehr oder weniger linientreu abgewandelt hatten. Davon wollte nun der Verfasser nichts wissen. Seine Probleme machten ihm schwer zu schaffen, er wollte sich ihrer schreibend entledigen, das Geschriebene mitbringen, dem Analytiker vorlesen und sich darüber auslassen. Wenn das dem Analytiker nicht recht sei, müsse er, der Verfasser, die Analyse eben abbrechen. Er bedeutete dem Analytiker ferner, daß diese Niederschriften und ihre Besprechung während der Behandlungsstunden therapeutisch sehr wirksam seien. Der Analytiker lenkte schließlich ein wenig mißmutig ein. Vielleicht sei dieser Arbeitsstil doch richtig für den Verfasser; aber wohlgemerkt, nur fürs erste! Im Rückblick scheint dem Verfasser, daß seine Methode durchaus Hand und Fuß hatte; er mußte sich seine Probleme jedenfalls zunächst einmal von der Seele schreiben, sonst hätte er die Analyse überhaupt nicht fortsetzen können.

Eines Morgens sagte der Analytiker gleich zu Anfang der Stunde: »Haben Sie irgendwelche Träume gehabt? Wir fangen nämlich gewöhnlich mit Träumen an.« Diese Bemerkung fiel zur Unzeit. Der Verfasser brannte ja darauf, ganz andere Schwierigkeiten zu erörtern, die erst jetzt aufgetaucht waren. Er ignorierte daher die Frage des Analytikers als nebensächlich, ja unsinnig und beharrte bei seinem Vorsatz: Zunächst müssen wir besprechen, was mich jetzt bedrückt; die Träume können warten.

Der Verfasser bat seinen Analytiker wiederholt, ihn weiterreden und sich aussprechen zu lassen, konnte aber dessen Zustimmung nur schwer erlangen. Der Analytiker seinerseits mischte sich in die Mitteilungen des Verfassers mit Fragen und Kommentaren ein, die mitunter ganze zehn Minuten dauerten und den Verfasser anödeten, der inzwischen an alles andere dachte als an das, was er hier zu hören bekam. Er gab auf die Worte des Analytikers nicht recht acht, wollte sich selber Gehör verschaffen und wartete ungeduldig auf das Ende des ärztlichen Redestromes.

Es kam auch vor, daß der Analytiker ihn mehrere Sitzungen hintereinander auf einen einzigen Traum festnagelte.

Wobei natürlich der aktuelle Diskussionsstoff vernachlässigt wurde. Das war verwirrend und widersprach Freuds Ratschlägen (siehe: Die Handhabung der Traumdeutung in der Psychoanalyse. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Vierte Folge, S. 378).

Der Verfasser suchte dem Analytiker klarzumachen, daß seine freie Selbstdarstellung ihm sehr geholfen habe, wie entschieden der Analytiker ihn auch daran gehindert hatte: daß viele seiner Probleme und Konflikte nun deutlicher erkennbar seien und eine Fortsetzung eben dieses Verfahrens sich als heilsam erweisen würde, da es sich ja schon bewährt habe. Er bat daher den Analytiker, ihn einstweilen so wenig wie möglich zu unterbrechen und mit guten Ratschlägen möglichst zu verschonen. Diese wiederholten Bitten fielen freilich auf taube Ohren; der Analytiker berief sich auf seine Freudsche Orientierung und meinte, er könne dem Verfasser sinnvollerweise nur helfen, wenn dieser sich zu dem Freudschen Behandlungsstil, den er indessen nicht näher erklärte, bequeme. Er setzte hinzu, daß er von der Analyse mehr verstehe als der Verfasser, da er ja schließlich der Analytiker sei. Diese Bemerkung erschien dem Verfasser töricht, denn ihm schien, daß das genaue Gegenteil richtig war: Er war deshalb sein Analytiker, weil er nach Meinung des Verfassers mehr von der Sache verstehen müßte als dieser. Aber Autoritätsberufungen dieses Kalibers machen auf den Verfasser ohnedies keinen Eindruck.

Dieser Analytiker langweilte den Verfasser überdies mit der Bemerkung: »Sie brauchen sich ja nicht analysieren zu lassen; wer nicht will, der muß nicht.« Das war nun wirklich zum Gähnen. Dem Verfasser fiel dabei immer der Mutterwitz eines Bauernhochzeiters ein, den der Geistliche soeben feierlich gefragt hatte, ob er die Braut heiraten wolle, »bis daß der Tod euch scheidet«, und der derb erwiderte: »Was soll ich denn sonst hier, Alterchen?«

Der Verfasser erinnerte seinen ersten Analytiker auch an eine historische Tatsache: Die umwälzende Behandlungsart, die wir heute als Psychoanalyse kennen, geht im Grunde darauf zurück, daß Breuers berühmte Patientin Anna 0. ihrem Arzt vorschlug, wie er sie behandeln solle. Der Arzt, Josef Breuer, sträubte sich lange und gab dann nach.

Der Analytiker des Verfassers wollte freilich von diesem Argument nichts wissen und meinte, später werde der Verfasser sich schon eines Besseren besinnen. Der Verfasser wartet noch heute auf diese bessere Einsicht. (Diesen Analytiker mögen die vielen sinnlosen und unverständigen Angriffe auf die Analyse verbittert und verbiestert haben. Der Verfasser versteht die Analyse heute viel gründlicher als damals. Er meint daher, daß die Analytiker keinen Grund haben, sich mit unvernünftigen und schlecht informierten Gegnern weiter aufzuhalten. Die ergebnisreiche Arbeit verantwortlicher Analytiker spricht durchaus für sich.)

Dem Verfasser mißfiel auch der Vorschlag, sich eine »Behandlung in Reinkultur« angedeihen zu lassen, als unvernünftig und unwissenschaftlich. Denn alles, was der Menschengeist ersinnt, ist unvollkommen und verbesserungsfähig. Und wenn ein Patient sich die Grundelemente eines neuen Heilverfahrens einfallen lassen kann, dürfen andere Patienten dann keine Verfeinerungsvorschläge mehr machen? Am besten läßt man auch den Patienten möglichst sich ausreden. Der Analytiker sollte ihn nur genügend ermuntern, alles zu sagen, was ihm durch den Sinn fährt – Albernes, scheinbar Unzugehöriges, ja Ungeziemendes , und sollte sich besonders für Stockungen interessieren, um zu erfahren, was dahinter steckt. Heute weiß der Verfasser auch, daß Freud selber diese Regel des Gewährenlassens streng beachtete; aber natürlich greift der Analytiker ein, wenn das Wohlergehen und der Fortschritt des Patienten es erfordern.

Nach etwa drei Monaten erschien es dem ersten Analytiker, daß der Verfasser mit einem anderer Arzt vielleicht rascher fortkommen und tiefer in seine Probleme eindringen könnte. Er überwies ihn daher an einen Kollegen, zu dem der Verfasser sich alsdann begab.

Erfahrungen mit dem zweiten Analytiker 

Der zweite Analytiker war dem Verfasser sofort sympathisch. Er strahlte ärztliches Wohlwollen aus. Er schalt den Verfasser wegen dessen übertriebener Höflichkeit freilich tüchtig aus und verlangte, auch seinerseits ausgeschimpft zu werden. Er wollte den Verfasser damit wohl zu größerem Ingrimm erziehen und dabei herausfinden, warum er gar so zahm war.

Daß der Verfasser sich zu Hause Notizen machte und diese dann mitbrachte, um sie analytisch zu verwerten, paßte auch diesem Analytiker nicht; er ließ es daher nicht zu.

Der Verfasser schlug dem zweiten Analytiker ein- oder zweimal vor, die Notizenmethode wenigstens einmal auszuprobieren. Der Analytiker winkte ab und fügte hinzu, der Verfasser würde seine Achtung vor ihm verlieren, wenn er sich auf dieses Experiment einließe. Dem widersprach der Verfasser. Er hatte ja eine solide wissenschaftliche Ausbildung hinter sich und würde den Analytiker eher mehr respektiert haben, wenn er den Versuch gestattet und sich als naturwissenschaftlicher Kollege erwiesen hätte. Für andere Patienten könnte sich die Notizenmethode weniger eignen, gibt der Verfasser bereitwillig zu.

Nach etwa fünf Wochen berührte der Verfasser wiederholt ein gewisses Thema. Der Analytiker wies ihn an, dieses Thema nicht weiter auszuführen. Der Verfasser versuchte, sich zu fügen, und schwieg eine halbe Minute lang. Dann besann er sich auf die Regel, alles zu sagen, was ihm einfiel. Dieses »alles« fiel ihm aber eben nicht ein, weil er sich ja das »eine« nicht einfallen lassen sollte. Und genau deswegen kam er auf das »eine« doch wieder zurück. Daraufhin herrschte ihn der Analytiker an: »Wenn Sie sich von diesem Thema nicht fernhalten, führe ich Ihre Analyse nicht durch. Wenn Sie wollen, hören wir sofort auf.« Den Verfasser fuchste diese Bemerkung und der Ton, in dem sie gemacht wurde. Er strengte sich ja an, die psychoanalytische Grundregel und ihre Außerkraftsetzung gleichzeitig zu befolgen, und so drehte er sich auf der Couch um, lag eine Minute lang schweigend da und wollte selber die Analyse schon abbrechen. Er besann sich aber eines Besseren, da er die Analyse unbedingt fortsetzen wollte. Auch mochte er den Analytiker gern, der ungeachtet seiner Barschheit wohl sein Bestes tat.

Danach arbeitete der Verfasser noch neun Wochen lang mit dem Analytiker zusammen; die Analyse dauerte insgesamt drei Monate und eine Woche. Die Bissigkeit des Analytikers aber hatte den Verfasser so tief verletzt, daß er sich danach an keinen einzigen Traum mehr erinnerte. Zwar machte er noch weitere Fortschritte und lernte auch viel, aber das Vertrauen zum Arzt war untergraben: Er fürchtete, der Analytiker würde ihn zu guter Letzt doch wieder anbrüllen, wie harmlos seine Einfälle auch sein mochten – und so stauten sich viele Erinnerungen in seinem Gedächtnis auf, weil er sie seinem Analytiker nicht mitteilen konnte.

Er hätte diese Analyse gern fortgesetzt, unterbrach sie vorläufig ein paar Wochen lang, hielt es dann aber für zwecklos, sie wieder aufzunehmen – wenigstens fürs erste.

Wie man sich selbst analysiert

Dem Verfasser wurde allmählich klar, daß seine selbstanalytische Methode derjenigen gleicht, mit der Freud sich vor Jahr und Tag selber erforscht hatte. Auch Freud gab dabei lediglich auf die von Augenblick zu Augenblick bewußt werdenden Gedanken acht. Die beiden Analytiker des Verfassers hatten besonders gegen diese Freudsche Regel verstoßen.

Ein grundlegender Unterschied zwischen Freuds Methode und dem Verfahren des Verfassers sei hervorgehoben. Freud machte seine Entdeckungen im Gange seiner Traumforschung: seine Selbstanalyse war wesentlich Traumdeutung, die zu weiteren psychologischen Entdeckungen führte. Der Verfasser dagegen wollte seine Gesundheit so weit wie möglich stärken und zu diesem Zweck so viel seelischen Schutt abräumen, wie er konnte. Er wurde zu seinen Entdeckungen also unabhängig von Freud gedrängt; an der Traumdeutung als solcher war er eigentlich nie sonderlich interessiert; seine Träume kümmerten ihn nur dann, wenn er das Gefühl hatte, sie könnten ihm therapeutisch weiterhelfen. Viel Aufschlußreiches mag ihm auf diese Weise entgehen. Aber seine praktischen Zwecke mögen auch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führen.

Beschreibung der Methode: Eine Selbstanalyse sollte täglich zu ganz bestimmter Stunde und am besten abends durchgeführt werden, wenn alles still ist und Störungen nicht zu befürchten sind. Diese Zeiten sollte man streng einhalten und so behandeln, als zahlte man einem Berufsanalytiker ein hohes Stundenhonorar dafür.

Alsdann lege man einen großen Vorrat guten Schreibpapiers an und benutze vorzugsweise einen Füllhalter, mit dem man leicht und rasch schreiben kann. Mit einem großen Papiervorrat wappnet man sich auch gegen die Ausrede der Widerstände, bald sei doch nicht mehr genug Papier da, um sie entschlossen weiterschreibend zu überwinden. Und wenn man hastig schreibt oder häufig zur Feder greift, verbraucht man das Papier ohnedies recht rasch. Man stelle sich auch vor, daß man nur teures Papier vergeudet, wenn man nicht rigoros seinen freien Einfällen nachgibt und sie niederschreibt.

Nehmen Sie nun an, Sie hätten für das erste »Stelldichein« mit der Notizenmethode genügend Zeit. Setzen Sie sich an einen stillen Ort, wo niemand Sie stören wird. Ein unbeschriebenes Blatt liegt vor Ihnen, der Füller ist gezückt. Schreiben Sie nun alles nieder, was Ihnen von Minute zu Minute in den Sinn kommt. Das ist das Geheimnis derMethode. „Dumme Methode!» mögen Sie nun denken. Schreiben Sie das auf. »Was für eine Zeitverschwendung!« denken Sie sodann. Schreiben Sie das auch hin. »Ich rnöchte schon gründlich analysiert werden«, denken Sie jetzt, »und ich habe ganz bestimmt einen – Mutterkomplex. Ob diese Methode dem aber beikommen kann?« … Schreiben Sie das nieder.

Nun steigt eine Erinnerung auf. ,,Was soll die denn hier?“ denken Sie vielleicht. Schreiben Sie das getrost auf. Plötzlich fallt Ihnen ein Traum ein – und danach vielleicht der Briefträger. Schreiben Sie: »Briefträger…?« Unversehens denken Sie an etwas ganz anderes, und der Traum verlischt. Lassen Sie ihn ruhig verlöschen. Schreiben Sie statt dessen die Gedanken zum neuen Thema auf. Und was Ihnen danach noch einfällt …

Legen Sie die ganze Einfallsfülle schriftlich nieder – Absurdes, Belangloses, Peinliches, Unerhörtes, Unanständiges; verzeichnen Sie, daß Sie nun am liebsten aufs Papier spucken möchten; und die Wahnsinnsidee, auf die Sie daraufhin verfallen: schreiben Sie das alles auf, so rasch Sie mit Ihren Einfällen Schritt halten können.

Als dem Verfasser seine eigene Methode noch neu war, wollte er bestimmte Erinnerungen bis in ihre Entstehungszeit zurückverfolgen und detailliert aufzeichnen. Aber bevor er damit zu Rande kam, drangen andere Gedanken ein. Das verdroß ihn zunächst, da er sich ja so rasch wie möglich tief analysieren und wichtigen Erinnerungen auf den Grund kommen wollte. Da es ihm aber nicht gelang, die lästigen »Nebengedanken« auszuschalten, nahm er sein ursprüngliches Verfahren wieder auf und ging den Nebengedanken nach, wobei er die Erinnerungen vorläufig auf sich beruhen ließ. Diesem Verfahren blieb er fortan treu. Es lohnte sich: Die vernachlässigte Erinnerung stellte sich meist rasch wieder ein, hatte sich mittlerweile vertieft und in Assoziationszusammenhänge eingeflochten, die dem Verfasser entgangen wären, wenn er den Erinnerungen unter Abwehrung der »störenden« Nebengedanken starrsinnig nachgegangen wäre. Die neuen Assoziationszusammenhänge ermöglichten es auch, über die ursprünglichen Erinnerungen hinaus weiter vorzudringen. Dieser Fortschritt wäre sicher aufgehalten worden, wenn er ausschließlich den Erinnerungen nachgegangen wäre.

Zu jener Zeit, da er sich allabendlich zur Selbstanalyse niedersetzte, gingen dem Verfasser zu allen erdenklichen Tages- und Nachtstunden die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Da er sie für wichtig hielt, dachte er: »Diese Gedanken mußt du um jeden Preis aufschreiben, wenn du dich das nächste Mal wieder hinsetzt!« Sobald er aber dasaß, konnte er sich auf diese Gedanken, die ihm irgendwo halbbewußt vorschwebten, nur dann besinnen, wenn er verkrampft gegen seine Widerstände ankämpfte. Zum Glück hatte er es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, nur auf seine jeweils vollbewußten Gedanken zu achten. Wenn er das tat, kaum auch der »verlorene« Gedanke unversehens wieder hervor und fügte sich automatisch, reibungslos und bedeutungsvoll in die Kette des schon Geschriebenen ein. Erstaunlich war, wie eng der gesuchte Gedanke nunmehr mit den voraufgegangenen Einfüllen zusammenhing.

Auch während des Notizenschreibens steht einem oft der Verstand still. Geschieht das, so schreibe man etwa: Nichts fällt mir ein. Wenn der Verfasser dergleichen niederschrieb, fiel ihm sofort doch etwas ein, das er sogleich schriftlich festhielt. Schmerzlichen Erinnerungen kann man sich eigentlich nur mit vielen vorsichtigen Assoziationsschritten nähern, eine jähe Gefühlsentladung wäre hier schwer zu ertragen. Die kleinen Schritte sichern allerdings auch den dauernden therapeutischen Erfolg.

Wer schreibt, muß reichlich assoziieren, um seinen Verdrängungen beizukommen. Dauert die Eigenanalyse deswegen länger als eine formale Analyse? Mitnichten! Dem Verfasser zum Beispiel war es schwergefallen, dem Analytiker peinliche Dinge anzuvertrauen. Schreibend konnte er sich diese Dinge viel leichter und rascher eingestehen.

Waren sie einmal durch freie Einfälle spruchreif und quasi »druckreif« geworden, dann konnte er auch die Gefühle, die sie in ihm hervorriefen, leichter ertragen. Er hielt aber seine Notizen vorläufig unter Verschluß, damit sie Unbefugten nicht zugänglich würden; so ersparte er sich auch vermeidbare Widerstände gegen das Weiterschreiben. Man sollte also seine Aufzeichnungen zur eigenen Beruhigung verschlossen aufbewahren und vorläufig niemandem übergeben. Dann kann man sie auch wieder lesen, so oft es einem beliebt, während der Wind des Alltags die Erregungsspuren langsam verweht, so daß sie von späterer analytischer Arbeit vollends getilgt werden können. Sobald sich die Gefühle auf diese Art geklärt haben, genieren einen auch die Erlebnisse nicht mehr so, an denen die Gefühle hafteten. Ja man würde sich nicht scheuen, mit anderen darüber zu reden.

Denn solange Erlebnisse noch gefühlsbelastet sind, bleiben sie »persönliche« Erlebnisse, über die man erröten könnte; verblaßt das Gefühl und fällt von der Person ab, dann wird man von diesen Erlebnissen weniger stark berührt.

Der Verfasser hat seine freien Einfülle auch einmal in eine Diktiermaschine gesprochen; er hoffte, mit diesem Verfahren Zeit und Arbeit zu sparen. Nach einer Viertelstunde mußte er aber einsehen, daß dieses Verfahren therapeutisch unwirksam war und ihm seelisch gar keine Erleichterung verschaffte. Er gab es daher auf. Es war schwierig, der Maschine Worte anzuvertrauen, die das Papier verschwiegen aufzunehmen schien. Hier warnte ein halb unbewußtes Gefühl: Die Wände haben Ohren! Nach dem gescheiterten Diktat machte der Verfasser sich wieder an seine Notizen, und alsbald fanden sich die verscheuchten Gedanken auch wieder ein. Das Diktat war den Affekten offenbar nicht beigekommen; statt dem Aufnahmegerät hätte er ebensogut einem Kissen, dem Schreibtisch oder dem Nachtwind diktieren können.

Ein bedeutsamer Unterschied, den der Verfasser sich wie folgt erklärt. Er bemerkte, daß er manchmal schrieb: »Du drückst dich jetzt vor etwas« statt »Ich drucke mich vor etwas.« Der unwillkürliche Gebrauch der du-Form schien darauf hinzudeuten, daß man beim Aufschreiben seiner freien Einfälle einen Partner mit einbezieht, der einem fortwährend kritisch oder beflügelnd über die Schulter schaut. Wenn man sein Geschriebenes fortlaufend sieht, erkennt man sich selbst in seinen Gedanken viel klarer als sonst: wer schriftlich assoziiert, diktiert der eigenen Person, an der er dann auch die Analytikerstelle vertritt. So erklärt sich wohl der psychologische Wirkungsunterschied zwischen dem Schreiben und dem mechanischen Diktieren.

Während man sich erste Gedanken notiert, schießen einem oft Dutzende von Erinnerungen durch den Kopf. Davon lasse man sich nicht beirren. Ist der erste Gedanke niedergeschrieben, ist er auch schon hinfällig. Ein zweiter drängt nach, wird aufgeschrieben und erledigt sich ebenso; und so erübrigt sich ein dritter. Nun steigt ein Einfall auf, der ganz neu zu sein scheint und der nie hätte auftauchen können, wenn nicht die voraufgegangenen Ideenassoziationen zuerst eine Reihe von Deckerinnerungen auf der Strecke gelassen hätten.

Und so assoziiert man weiter. Erinnerungen treten ins Bewußtsein, werden niedergeschrieben und erledigt. Dabei wird man neuer Zusammenhänge gewahr und stößt auf Verdrängungen. Neue Erinnerungen und Deckerinnerungen treten auf, die vor tieferen Verdrängungen Wache stehen. Hat man sich mit diesen auseinandergesetzt, führen weitere Einfälle zu weiteren Deckerinnerungen, hinter denen noch tiefere Verdrängungen stecken.

Das freie Assoziieren ist von der althergebrachten Selbstbeobachtung grundsätzlich verschieden. Mit der Selbstbeobachtung ist wenig gewonnen. Sie richtet sich hauptsächlich auf Deckerinnerungen, die fast ausschließlich – und normalerweise unverrückbar – in den obersten Bewußtseinsschichten angesiedelt sind, während die Tiefenschichten verborgen bleiben. Mit der Selbstbeobachtung bereitet man sich oft auch nur unnötigen Kummer, weil sie die »wunden Punkte« unangetastet läßt, an denen sich die Selbstbeobachtung daher nur immer wieder aufreibt. Die regelrechte Analyse (und die Selbstanalyse) dringt dagegen unentwegt in die Gemütstiefe ein; so werden die oberflächlichen Sorgen zerstreut und schließlich ganz vertrieben.

Wer seinen freien Einfällen nachgibt, schreibt sich nicht neurotisch, er schreibt sich gesund. Übertriebene Selbstbeschauung verschlimmert dagegen die neurotischen Neigungen.

Bereits Geschriebenes sollte man stets auf sich beruhen lassen; neue Gedanken brauchen keine alten Stichworte. Das Unbewußte muß sich von Mal zu Mal ganz frei auswirken können; nur so kommen die jeweils vordringlichsten Gedanken frisch aufs Papier.

Vielen Menschen huschen im Laufe des Tages flüchtige Gedanken durch den Kopf. Diese »Schmetterlinge« (wie Joanna Field sie genannt hat) könnte man natürlich unverzüglich aufschreiben, damit sie nicht wieder davonflattern. Nötig ist das nicht. Der menschliche Geist ist ein geschlossenes Querverweisungssystem, in welchem nichts Wichtiges verschwindet und alles Wesentliche früher oder später zur Sprache (oder Feder) kommt.

Die schriftliche Selbstanalyse ist kein Kinderspiel. Der aufrichtige Umgang mit Einfällen, die wie der Wind ständig umspringen, gelingt anfangs kaum. Auch den vordergründigen Verdrängungen ist nicht ohne weiteres beizukommen. Aber man darf sich nicht entmutigen lassen, wenn man zuerst nur einmal in der Woche zu sich in die Sprechstunde gehen kann, statt, wie man gehofft hatte, siebenmal.

Hält man aber trotz allem durch und arbeitet so oft und gut, wie man kann weiter, dann weichen schließlich auch die störrischsten Vordergrunds-Verdrängungen. Fühlt man sich erst einmal gesünder und glücklicher, so packt man das Verfahren eifrig an, freut sich des Ertrages, und die Analyse schreitet rasch fort. 

Mit freundlicher Genehmigung auszugsweise entnommen dem Buch Bericht einer Selbstanalyse von Emest Pickworth Farrow. Aus dem Englischen von Günter Mecke. (c) 1948 George Allen & Unwin. Klett-Cotta, Stuttgart, 1984.

 

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