Gott ist X. Erich Fromms Theorie vom Gesellschafts-Charakter und der Rolle der Religion

von Rainer Funk

Die Religion und das Religiöse in der Tiefenpsychologie von Freud und Jung

Die Tiefenpsychologie hat zu Beginn dieses Jahrhunderts in Sigmund Freud ihren ersten und zugleich bedeutendsten Vertreter gehabt. Er hat erstmals systematisch jene Wege aufgezeigt, die zur Dimension des Unbewußten im Mensch führen. Mit diesem Aufweis hat Freud plausibel gemacht, was Tiefenpsychologie meint: Alle geistig-seelischen – und wie wir heute wissen, auch alle körperlichen – Wirklichkeiten werden von seelischen, bewußten und unbewußten Kräften disponiert. Unser Denken, Fühlen und Handeln, unsere Beziehung zu anderen Menschen, zu uns selbst, zu Gott, zu unserem Eigentum, unsere politischen Ansichten, die Wahl der ethischen Werte, alle unsere Lebensäußerungen werden auch von unbewußten Strebungen, Impulsen, Triebkräften, Phantasien, Affekten, Haltungen, kurz von unbewußten Kräften mitbestimmt. Das Religiöse macht dabei keine Ausnahme. Seit Freud gibt es einen humanwissenschaftlichen Zugang zum Religiösen. So wenig das Denken und Wollen von den psychischen Kräften unabhängig ist, so wenig auch die religiöse Erfahrung und ihre Ausdeutungen in Theologie, Gottesbildern, Ritualen, Dogmen und Kirchenverständnissen. Natürlich kann man solche Zusammenhänge leugnen. Doch jede Verleugnung bewirkt eine Einschränkung von Wirklichkeit und Lebendigkeit, auch und gerade dort, wo es um die psychischen Kräfte geht, die das Religiöse tragen.

Allein die Tatsache dieses Zusammenhangs von Religiösem und Unbewußtem führt zu einer zentralen Einsicht: Gotteserfahrung als Voraussetzung für jede Art von Reden über Gott gibt es nicht losgelöst von Selbst- und Welterfahrung. Offenbarung ereignet sich durch die psychische Konstitution des religiösen Menschen hindurch. Religion ist immer auch ein zutiefst menschliches Phänomen, das humanwissenschaftlich plausibel gemacht werden kann.

Nun hat bekanntlich Freud seine Entdeckung des Unbewußten mit der Theorie verquickt, daß alle unbewußten Kräfte deshalb wirkmächtige Kräfte seien, weil sie letztlich Ausdrucksformen sexueller Energie und sexueller Triebabkömmlinge seien und daß der Mensch bestrebt sei, ein Optimum an libidinöser Befriedigung zu erleben. Dieses Erklärungsmuster für die Wirkweise des Unbewußten ist nicht das einzige in der Tiefenpsychologie geblieben. Freud selbst hat es 1920 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs verändert. Dennoch ist diese erste Freudsche Triebtheorie am bekanntesten geworden innerhalb der verschiedenen Richtungen der Tiefenpsychologie.

Werden mit der Freudschen Triebtheorie alle psychischen Erscheinungsformen als Abkömmlinge des Sexualtriebs aufgefaßt, dann gilt alles Streben des Menschen primär dem Lustgewinn. Dieses primäre Streben muß aber zugunsten des Zusammenlebens und des kulturellen und zivilisatorischen Fortschritts eingeschränkt verdrängt werden. Bei dem Versuch, die verdrängten libidinösen Strebungen dann doch noch auf dem Wege kollektiver Phantasien zu befriedigen, spielt die Religion eine wichtige, wenn auch zweifelhafte Rolle. Religion wird nämlich zu einem Ersatzphänomen, zu einem Epiphänomen. Weil die Religion nur Ausdruck einer Ersatzbefriedigung auf dem Wege kollektiver Phantasien ist, erübrigt sie sich in dem Maße, als die Verdrängung des Sexualtriebs aufgehoben wird und der Mensch zur direkten Befriedigung seiner Sexualität befreit wird.

Ich möchte hier nicht auf all die Konsequenzen eingehen, die diese Freudsche Triebtheorie für das Verständnis des Religiösen in der Tiefenpsychologie hat, und auch nicht auf die in dieser Triebtheorie eingeschlossenen fragwürdigen Vorstellungen vom Menschen, seiner Gesellschaft und Kulturgeschichte. Mag man die mit dieser Triebtheorie mitgesetzte Religionskritik noch so konstruktiv wenden wollen, solange dieser libidotheoretische Erklärungsansatz verfolgt wird, bleibt es dabei, daß die Frage des Religiösen eigentlich nur unter psychopathologischen Gesichtspunkten interessant ist: Das Religiöse wird als Ausdruck neurotischer psychischer Komplexe angesehen. In der praktischen Anwendung lasen sich dann Analogien bilden z.B. zwischen typischen zwangsneurotischen Verhaltensweisen und religiösen Ritualen und Gottesbildern. Da sich die Religion aus ihrem Verdikt, ein reines Epiphänomen zu sein, nicht befreien kann, verharrt die religionskritische Fragestellung dieser Art von Tiefenpsychologie in der Alternative von Religion – ja oder nein.

Bereits 1912 begann Carl Gustav Jung eine andere Triebtheorie zu entwickeln, in der die Religion ein ganz anderes Schicksal hat, meines Erachtens kein besseres bei näherer Betrachtung. Die Religion wird durchgängig beerbt und psychologisiert im Hinblick auf die archetypische Qualität ihrer Symbole und Symbolhandlungen. Die in der Religion belebten Gottesbilder werden wertgeschätzt, aber sie werden es ungeachtet ihrer historischen Eingebundenheit und zumeist auch ungeachtet ihrer produktiven oder kontraproduktiven Wirksamkeit heute. Der Ausweis ihrer archetypischen Qualität und Wirksamkeit genügt und legitimiert sie. Die für eine tiefenpsychologische Bewertung des Religionsphänomens entscheidende Frage, ob sich in der Rede über Gott eine heilende oder eine entfremdende Wirkmacht widerspiegelt, gerät aus dem Blickfeld. Der religionskritische Stachel der Tiefenpsychologie ist verloren gegangen.

Kommen wir auf dem Hintergrund der Freudschen und Jungschen Tiefenpsychologie zur Einschätzung des religiösen Phänomens bei Erich Fromm.

Die Religion und das Religiöse in der Tiefenpsychologie Erich Fromms

Die zunächst geniale und für die damalige Zeit auch radikale Idee Freuds, das gesamte psychische Geschehen aus dem Schicksal des Sexualtriebs zu erklären, erwies sich für viele Tiefenpsychologen – ja für Freud selbst – als revisionsbedürftig. Erich Fromm begann schon Anfang der dreißiger Jahre, ein anderes Erklärungsmuster für die dynamische Kraft unbewußter Strebungen zu entwickeln. Er lenkte den Blick auf die psychische Ursprungssituation des Menschen, also dorthin, wo der Mensch begann, sich vom Tier zu unterscheiden. Fromm fühlt sich in diese Situation ein und spürt die ganze Fragwürdigkeit, Hilflosigkeit, Widersprüchlichkeit des mit Selbstbewußtsein, Vorstellungsvermögen und Vernunft begabten Menschen: ein Teil der Natur zu sein, jedoch die für das Tier typischen instinktiven Anpassungsmechanismen verloren zu haben und sich verloren zu fühlen, gleichzeitig jedoch die Natur mit den hinzugewonnenen Fähigkeiten zu übersteigen. Diese existentiell widersprüchliche Situation erzeugt psychische Grundbedürfnisse, die eine ähnliche Macht und Dynamik haben wie jene instinktiven Grundbedürfnisse, die der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat: nämlich zu essen, zu trinken, zu schlafen, sich zu bewegen, seine sexuellen Wünsche zu befriedigen.

Die psychischen Grundbedürfnisse sind nur für den Menschen typisch; andererseits gilt für sie, daß sie bei jedem Menschen nachweisbar sind und auch von jedem Menschen befriedigt werden müssen. Zu ihnen gehört das Bedürfnis nach Bezogenheit. Wie immer ein Mensch auf dieses Bedürfnis reagiert, ob er die leidenschaftliche Strebung entwickelt, sich jemand anderem zu unterwerfen, sich zu verweigern, andere in seine Gewalt zu bringen oder zur Liebe fähig zu sein mit jeder dieser leidenschaftlichen Strebungen befriedigt er sein unabdingbares psychisches Grundbedürfnis nach Bezogenheit. Welche Art von Charakterzügen und leidenschaftlichen Strebungen jemand wählt, hängt nach Fromm vom Gesellschafts-Charakter ab, also von den Bezogenheitsmustern, die dem einzelnen von der Kultur und Gesellschaft, in der er lebt, vorgelebt werden. So sehr die Bedürfnisse mit dem Menschsein als solchem gesetzt sind und deshalb zur „Natur des Menschen“ gehören, so sehr sind die Befriedigungsmuster und die gesellschaftlich bevorzugten leidenschaftlichen Strebungen historisch bedingt und änderbar.

Bei dem Versuch, psychische Grundbedürfnisse zu benennen, stößt Fromm zwar nicht auf ein Bedürfnis nach Religion, aber doch auf ein – wie er sagt – „Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und nach einem Objekt der Hingabe“. Dieses kann in der Religion befriedigt werden, aber ebenso auch in allen Formen der Philosophie, Weltanschauung, politischen und wissenschaftlichen Theorie und Welterklärung. Anders als für Freud, für den Religion ein Epiphänomen war, ist für Fromm Religion damit aber ein Urphänomen des Menschen. Religion ist eine mögliche Antwort auf dieses Bedürfnis. Ob es mit einer institutionalisierten Religion oder mit anderen ideologischen und politisch-sozialen Größen befriedigt wird, hängt ebenso von der Frage der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse ab, in denen jemand lebt, wie die Frage, ob diese oder jene Religion bzw. Religionsrichtung bevorzugt wird:

„In Gesellschaftsformen, wo eine Minorität die Macht in den Händen und die Massen in Unterwerfung hält, wird das Individuum so von Furcht erfüllt sein, so unfähig, sich stark und unabhängig zu fühlen, daß seine religiöse Erfahrung autoritärer Natur sein wird. Ob er einen strafenden, ehrfurchtgebietenden Gott anbetet, oder einen Führer solcher Prägung, spielt dabei fast keine Rolle.“ (1)

Religion und Politik, Gottesbild und Menschenbild, Gotteserfahrung und Gesellschaftsveränderung sind nur zwei verschiedene Zugänge zu demselben Phänomen: daß psychische Bedürfnisse durch die Bevorzugung bestimmter leidenschaftlicher Strebungen befriedigt werden entsprechend der sozio-ökonomischen Realität. Die Frage nach der Religion ist also nicht loszulösen erstens von der Frage, welche leidenschaftlichen Strebungen werden in einer bestimmten Gesellschaft gefördert und welche werden gehemmt; zweitens ist die Frage nach der Religion nicht loszulösen von der Frage, welche leidenschaftlichen Strebungen denn nun wünschenswert sind: jene, die die Gesellschaft zu ihrem eigenen Funktionieren braucht, oder jene, die psychischem Wachstum und psychischer Reife dienlich sind.

Bei der Analyse der therapeutischen Prozesse, durch die Patienten geheilt wurden, machte Fromm wie schon Freud die Beobachtung, daß nicht die Anpassung an die gesellschaftlichen Erfordernisse heilt, sondern ein psychischer Reifungsprozeß, bei dem verdrängte Strebungen zugänglich gemacht werden, so daß sie Teil des Ich’s werden. Für Freud waren solche Strebungen entsprechend seines triebtheoretischen Konzepts Abkömmlinge des Sexualtriebs.

Auch für Fromm gilt, daß die Entfaltung verborgener, verdrängter, von der Gesellschaft unerwünschter Strebungen die psychische Reifung fördert und daß durch diesen Integrationsprozeß psychische Heilung erfolgt. Der Grund ist jedoch nicht, daß verdrängte Sexualität aufgehoben wird, sondern der, daß psychische Kräfte als eigene Kräfte erfahrbar gemacht werden und daß jene leidenschaftlichen Strebungen gefördert werden, die eine subjekthafte, eigenständige und aus liebenden und vernünftigen Eigenkräften erwachsende Bezogenheiten zu sich selbst und zur natürlichen und menschlichen Umwelt möglich machen. Je mehr der Mensch sich selbst als Autor, Akteur, Subjekt seines Lebens erfährt und also er selbst es ist mit seinen eigenen Kräften, der denkt, fühlt und handelt, entwickelt er auch seine Kräfte der Vernunft und der Liebe, mit denen er ganz bei der Welt und beim anderen Menschen sein kann, ohne sich selbst zu verlieren.

Werden die leidenschaftlichen Kräfte des Menschen zu seinen Eigenkräften, zu Kräften also, deren Subjekt der Mensch ist, so daß sie ihren Ursprung im Menschen selber haben und der Mensch ein authentisches Selbst ist, dann wird der Mensch zu optimaler Nächstenliebe bei optimaler Selbstliebe fähig, dann findet der Einzelne sich selbst im Nächsten wieder, ohne seine eigene Integrität oder die Integrität des anderen zu verletzen (dies meint „Liebe“ bei Fromm) und dann vermag er die Wirklichkeit in ihrer ganzen Objektivität zu erkennen aufgrund seiner ganzen Subjektivität (dies meint „Vernunft“ bei Fromm).

Unter tiefenpsychologischen Gesichtspunkten entscheidet sich seelisches Heil von der Entwicklung der dem Menschen eigenen Kräfte der Vernunft und Liebe her. Es kommt deshalb alles darauf an, ob die leidenschaftlichen Strebungen dieses humanistische Ziel fördern oder nicht. Die religionskritische Frage bleibt bei Fromm erhalten, ja bekommt ein zentrale Bedeutung. Sie zeigt sich in einer humanistischen Interpretation des Religionsphänomens und der Gottesvorstellung.

Die humanistische Vorstellung von Gott bei Erich Fromm

In seinem 1950 erschienenen Buch Psychoanalyse und Religion kritisiert Fromm die „autoritäre Religion“ von seiner humanistischen Interpretation des Gottesbildes her:

„Gemäß autoritärer Religion ist Gott das Symbol von Macht und Stärke … und der Mensch ist im Gegensatz dazu vollkommen ohnmächtig. Autoritäre weltliche Religion folgt demselben Prinzip. Hier wird der ‚Führer‘ oder der ‚Vater seines Volkes‘ oder der Staat oder die Rasse oder das sozialistische Vaterland zum Gegenstand der Anbetung; das Leben des einzelnen ist bedeutungslos, und der Wert des Menschen besteht gerade in der Verleugnung seines Wertes und seiner Stärke … Humanistische Religion hingegen bewegt sich um den Menschen und seine Stärke. Der Mensch muß seine Kraft der Vernunft entwickeln, um sich selbst, seine Beziehung zum Mitmenschen und seine Stellung im Universum zu verstehen … Insofern humanistische Religionen theistisch sind, ist Gott das Symbol für des Menschen eigene Kräfte, die er in seinem Leben zu verwirklichen sucht, und nicht ein Symbol für Gewalt und Herrschaft, also für Macht über den Menschen.“ (2)

Humanistische Religion ist nur in der Mystik und in den mystischen Richtungen der etablierten Religionen zu finden. Denn nur diesen geht es um jene Erfahrung des EINEN und jenes Erleben von Einssein, das sich erst dort einstellt, wo der Mensch aller Vorstellungen von einem machtvollen Gott, aller Erkenntnis Gottes, allen Strebens nach Gott, allen Wissens um Gott ledig ist, oder – um mit Meister Eckhart zu sprechen – wo der Mensch nichts hat, nichts weiß, nichts will.

Das Frommsche Verständnis von Religion impliziert eine umfassende Religionskritik, die sich vor allem gegen die etablierten Offenbarungsreligionen richtet. Diese geben vor, etwas von Gott zu wissen und ihn in seinem Wesen begreifen zu können; sie ersetzen jedoch die humanistische Erfahrung der Transzendenz auf ein jeweils höheres Selbst durch die Erkenntnis eines jenseitigen Gottes. Fromms humanistische und mystische Religion ist die Negation aller um eine positive Gotteserkenntnis bemühten Religion:

„Die Gottesvorstellung hat sich zunächst entsprechend der politischen und gesellschaftlichen Vorstellung von einem Stammeshäuptling oder Stammeskönig herausgebildet. Dann entwickelt sich das Bild eines konstitutionellen Monarchen, der verpflichtet ist, sich dem Menschen gegenüber an seine eigenen Prinzipien zu halten: an die von Liebe und Gerechtigkeit. Er wird zum namenlosen Gott, zu dem Gott, über den man keine Wesensattribute aussagen kann. Dieser Gott ohne Attribute wird ‚im Schweigen‘ verehrt. Er ist kein autoritärer Gott mehr. Der Mensch muß völlig unabhängig werden, und das heißt auch, unabhängig von Gott.“ (3)

Wo Religion um die Erkenntnis des richtigen Gottesbildes und des wahren Gottes bemüht ist, betreibt sie bereits Götzendienst. Der einzige Dienst, den eine institutionalisierte Religion der religiösen Erfahrung leisten kann, ist ein religionskritischer: die Idole, Illusionen und Ideologien zu entlarven, zu desillusionieren und zu kritisieren. Fromm forderte deshalb statt Gottesbilder eine „Idologie“, eine Wissenschaft von Idolen:

„Tatsächlich kann das Wissen um die Idole und der Kampf gegen den Götzendienst Menschen aller Religionen und auch die ohne Religion vereinen. Auseinandersetzungen über Gott werden die Menschen nur untereinander entzweien, es werden dabei Worte an die Stelle der Realität menschlicher Erfahrung treten, was schließlich zu neuen Formen des Götzendienstes führen wird.“ (4)

Es ist nur konsequent, wenn Fromm in seinem Buch Ihr werdet sein wie Gott aus dem Jahre 1966 die Rede von Gott vermeidet und statt von Gott von einem „X“ und statt von Gotteserfahrung von „X-Erfahrung“ spricht, eben weil Gott nicht begrifflich erkannt und benamt werden kann, sondern nur wie ein undefinierbares X erfahren werden kann. Das X bedeutet, daß man bei dieser Erfahrung nichts in Händen hat, nichts im Kopf hat, nichts im Herzen hat, – nichts leistet, nichts weiß, nichts will. Religiöse Erfahrung ist etwas Unverfügbares, das auf mich zukommend, mir begegnend, mich transzendierend erfahren wird. Das Bild von Gott, das Fromm hat, ist das der sogenannten negativen Theologie, weil sich von Gott nur aussagen läßt, was er nicht ist. Theologie soll zur Idologie werden. Was für das Gottesbild zutrifft, gilt nach Fromm aber auch für das Menschenbild. Den Menschen „erkennt“ man nur mit Hilfe einer negativen Psychologie:

„Die Psychologie kann uns zeigen, was der Mensch nicht ist. Sie kann uns nicht erklären, was der Mensch ist… So ist das legitime Ziel der Psychologie ein negatives: die Beseitigung von Entstellungen und Illusionen.“ (5)

Fromm negiert nicht die Theologie zugunsten der Tiefenpsychologie, sondern hebt sie in einer negativen Psychologie auf. Er interpretiert das Gottesbild ganz humanistisch, jedoch nicht in der Weise, daß er die Religion beerbt und anthropologisch bzw. humanistisch wendet, sondern dadurch, daß er Gottesbild und Menschenbild, Theologie und Psychologie dialektisch aufhebt:

„Es gibt noch einen anderen Weg, der zur Erschließung des menschlichen Geheimnisses führt; dieser Weg ist nicht der des Nachdenkens, sondern der der Liebe. Liebe ist das aktive Durchdringen eines anderen, bei dem mein Wunsch nach Erkenntnis durch Vereinigung gestillt wird … Ich erkenne auf die einzige Weise, in der dem Menschen Erkenntnis des Lebendigen möglich ist – durch die Erfahrung des Einsseins, nicht durch ein Wissen, das aus dem Denken kommt. Der einzige Weg zu ganzer Erkenntnis liegt im Tun der Liebe.“ (6)

Bei der X-Erfahrung geht es nicht um eine metaphysische Erkenntnis, sondern um ein paradoxes Erleben: sie ist das Erleben des EINEN im Sicheinlassen auf das Nichts, das Erleben der Fülle im Sicheinlassen auf die Leere. Die Einheitserfahrung mit dem Fremden und Anderen in mir und im anderen wird als Erfahrung von Transzendenz, von Nicht-Verfügtem, Geschenktem, von Nicht-Ich erlebt. Weil sie aber eine durch Praxis von Vernunft und Liebe erfahrene Einheit ist, ist sie doch immer die Erfahrung des Fremden im Eigenen, ist sie Erfahrung des Anderen als des eigenen Anderen und deshalb nichts, was dem Menschen im Letzten fremd wäre.

Fromm geht es um die Erfahrung von Transzendenz, doch diese Transzendenz ist eben gerade nichts Jenseitiges, dem Menschen prinzipiell Fremdes, sondern etwas im Bereich des Menschen-Möglichen. Das, was in den Religionen „Gottes“-Erfahrung genannt wird, ist bei der X-Erfahrung die je umfassendere Erfahrung der Zielgestalt des Menschen-Möglichen. Daß Menschen oft meilenweit von dieser Zielgestalt entfernt bleiben, spricht nicht gegen die Überzeugung.

Aus dem Dargelegten läßt sich auch zeigen, daß die Frommsche Sicht von humanistischer Religion als Kritik an jeder Form institutionalisierter Religion nur dem wirklich plausibel sein kann, der religiöse Erfahrung als Praxis von Vernunft und Liebe realisiert, ob er sich nun zu Gott bekennt oder nicht. Gerade darin liegt das ungeheuer Provozierende der Religionskritik und der – die paradoxe Formulierung sei erlaubt – humanistischen Rede von und über Gott bei Erich Fromm. Nur dem, der Liebe und Vernunft praktiziert, werden diese Kräfte religiöse Kräfte sein, also heil-stiftende und einende Kräfte, durch die er das Einssein mit sich und den Menschen erleben kann.

Zusammenfassung: Religion als Praxis von Vernunft und Liebe

Manchen mag die Bestimmung der X-Erfahrung als Erfahrung des EINEN aufgrund der Eigenkräfte der Vernunft und Liebe zu leer und zu wenig transzendent oder transzendental erscheinen. Führen nicht Vernunft und Liebe immer nur zu dem scheiternden, entfremdeten, sich selbst zerstörenden Menschen zurück? Ich möchte abschließend beide Begriffe nochmals umschreiben, um ihre „religiöse“ Dimension deutlich zu machen:

Vernunft meint nicht das „know how“, und auch nicht eine verstandesmäßige Erfassung der Wirklichkeit; Vernunft hat nichts mit „manipulativer Intelligenz“ oder „instrumenteller Vernunft“ zu tun. Vernunft läßt sich nicht herstellen oder machen, auch nicht durch noch so viel Wissen und Denken.

Vernunft ist vielmehr die Fähigkeit zur Einheitserfahrung mit der äußeren und inneren Wirklichkeit. Vernunft ist nicht kausal-logisch, sondern paradox-logisch. Sie ist die Fähigkeit, sich mit einer Katze, einer Rose, einem Gegenstand so sehr eins zu erleben, daß die mit der Vernunft wahrgenommene Wirklichkeit nichts Fremdes und Anderes mehr ist, sondern etwas zutiefst Eigenes und mit mir Eines.

Das Vorhandensein solcher Vernunftfähigkeit zeigt sich darin, daß Wirklichkeit als Eigenes, als Heimat und Vertrautes, als Lebendiges und Belebendes, als Unmittelbares und Gegenwärtiges wahrgenommen werden kann. Je größer diese Fähigkeit zur Vernunft, desto geringer die Angst vor der äußeren und inneren Wirklichkeit, desto geringer die Bedrohung und Entfremdung, desto geringer die Kluft zwischen Außen- und Innenwelt, Objektivität und Subjektivität.

Auch Liebe ist nichts Herstellbares und Machbares. Liebe ist weder Selbstverlust noch Selbstverzicht, und schon gleich gar nicht Abhängigkeit, Unterordnung. Sich-Verdanktwissen von dem, der zuerst liebt und also als Quelle aller Liebe angesehen wird. Liebe ist etwas Zukommendes, das im Geben, Teilen und Mitteilen als Geschenk erfahren wird, doch mit Liebe ist gerade nicht die Erwartung des „Geliebtwerdens“ gemeint. Liebe ist eine Aktivität aus dem Erleben von Fülle heraus, nicht aber eine passive Erwartung, daß ein Mangel behoben wird. Sie ist die Fähigkeit, sich mit all seinen geistigen, emotionalen und körperlichen Kräften eins zu wissen und sich in dieser Selbstliebe zugleich eins zu wissen mit den Menschen und der Natur, ohne hierbei sich selbst aufzugeben oder den anderen zur Aufgabe seines Andersseins zu bewegen. Liebe ist die Fähigkeit, das Fremde und Andere als das Eigene und das Eigene im Fremden und Anderen zu erleben und sich im Erleben des Fremden als Eigenen mit dem Anderen eins zu fühlen.

Vernunft und Liebe sind die religiösen Kräfte des Menschen. Sie ermöglichen die Erfahrung des Einsseins und des EINEN, die traditionell mit dem Begriff „Gott“ umschrieben wurde.

Sicherlich kann Fromms Art, als Psychologe über Gott zu reden, nicht repräsentativ genannt werden für die Art, wie Psychologen, und zumal Tiefenpsychologen über Gott sprechen. Aber es sollte hier auch nicht um die Repräsentanz des Durchschnittlichen gehen. Meines Erachtens hat der Psychologe Fromm jedoch die Frage des Redens über Gott für das zwanzigste Jahrhundert neu formuliert, indem er die Dialektik von Religion und Religionskritik, von Theismus und Atheismus in einem humanistischen Glauben an die Zielgestalt des Menschen-Möglichen aufgehoben hat. Am Ende seines Buches Ihr werdet sein wie Gott (7) fragt Fromm: „Ist Gott tot?“ und antwortet so:

„Man sollte diese Frage nach zwei Aspekten angehen: Ist die Gottesvorstellung tot, oder ist die Erfahrung, auf welche diese Gottesvorstellung hinweist, und der höchste Wert, der darin zum Ausdruck kommt, tot?…

Was die Gottesvorstellung betrifft, so müssen wir uns fragen, ob wir eine Vorstellung beibehalten sollten, die man nur aus ihren gesellschaftlich-kulturellen Wurzeln verstehen kann: aus den Kulturen des Nahen Ostens mit ihren autoritären Stammeshäuptlingen und ihren Königen mit uneingeschränkter Macht und aus dem späteren mittelalterlichen Feudalismus und den absoluten Monarchen. Für die heutige Welt, die nicht mehr nach den Prinzipien… der Idee des Königtums gelenkt wird, hat die Gottesvorstellung ihre philosophische und gesellschaftliche Grundlage verloren. Wenn wir andererseits die Frage stellen wollten, ob die Erfahrung tot ist, dann sollten wir – statt zu fragen, ob Gott tot ist – lieber Fragen, ob der Mensch tot ist. Dies scheint mir das zentrale Problem des Menschen der Industriegesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Er läuft Gefahr, zu einem Ding zu werden, die wirklichen Probleme der menschlichen Existenz aus den Augen zu verlieren und sich nicht mehr für diese Probleme zu interessieren. Wenn der Mensch in dieser Richtung weitergeht, wird er selber tot sein, und das Problem von Gott als Vorstellung oder als poetisches Symbol des höchsten Wertes wird kein Problem mehr sein.“

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Quellen:

(1) Psychoanalyse und Religion, GA VI, S. 257

(2) Psychoanalyse und Religion, GA VI, S. 249

(3) Ihr werdet sein wie Gott, GA VI, S. 120f.

(4) Ihr werdet sein wie Gott, GA VI, S. 113 (5) Der Mensch ist kein Ding, GA VIII, S. 23 (6) ebenda (7) GA VI, S. 221

Die Zitate von Fromm sind sämtlich der Erich Fromm Gesamtausgabe in 10 Bänden, herausgegeben von Rainer Funk, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1980/81, München (dtv) 1989, entnommen. Band VI der Gesamtausgabe enthält die Schriften zur Religion. Im einzelnen sei auf folgende Schriften (zusätzich zu den oben aufgeführten) besonders verwiesen: – Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, GA VI, S. 11-68. – Psychoanalyse und Zen-Buddhismus (Psychoanalysis and Zen Bud dhism), GA VI, S. 301-358. – Humanismus und Psychoanalyse (Humanismo y Psicoanalisis), GA IX, S. 3-11. – Propheten und Priester (Prophets and Priests), GA V, S. 295-307. – Einige post-marxsche und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität, GA VI, S. 293-299. – Religion und Gesellschaft, in: R. Funk, Mut zum Menschen, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1978, S. 359f.

 

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