Erster und letzter Brief an einen Körpertherapeuten

…habe ich aus der letzten „Ich“ die Anregung aufgenommen, Euch einen Brief zu schicken, der schon so etwas wie eine „Ich-Geschichte“ ist. Nach positiver Therapie-Erfahrung, die ich aber leider aus Kosten- und Zeitgründen nicht fortsetzen konnte, machte mir (als es mir wieder ziemlich schlecht ging) ein befreundeter Körpertherapeut das Angebot, an meinem Wohnort mit mir zu arbeiten … Diese Stunde verlief jedoch ganz anders, als ich erwartet hatte: M. bohrte mir seine Finger in die verspannte Muskulatur zwischen den Rippen (was an in Ordnung sein kann, um bestimmte Energieflüsse anzuregen), bis ich vor Schmerz heulte. Das für mich Entscheidende war aber, daß er auf meine entsprechenden Bemerkungen hin meinte, es könne gar nicht so weh tun, ich würde mir das nur einbilden, schließlich hätte er schon mit vielen anderen gearbeitet, und die hätten sich nicht „beschwert“. Am Ende schlußfolgerte er, recht böse geworden, ich würde ihm wohl seine Kompetenz absprechen wollen.

Nachdem ich wieder zu Hause war, schrieb ich ihm den folgenden Brief, der mir geholfen hat, mit dieser für mich sehr belastenden Situation (ich wollte den Kontakt zu ihm nicht verlieren, aber meine Gefühle auch nicht verleugnen) fertig zu werden. Mir ist klar, daß der Brief einerseits persönliche Probleme von mir verdeutlicht; andererseits glaube ich, daß es auch um eine Grundsatzfrage im Verhältnis Therapeut-Klient geht: Wie kann jemand helfen, autoritäre Strukturen aufzugeben, indem er selbst autoritär vorgeht?

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Lieber M.!

Daß Du mich nach unserer ersten und letzten „Sitzung“ doch nicht anriefst, ich wiederum auch nicht dergleichen tat, liegt bestimmt nicht an persönlicher Verhinderung, aus welchem Grund auch immer. Ich möchte zurücknehmen, was ich sagte: Ich hätte dich vielleicht ungerecht behandelt und daß es mir leid täte. Diese Abschiedsgeste entsprang meinem – leider nur schwer zu bewältigendem -Versöhnungs- und Harmoniebedürfnis gegenüber Menschen, die ich mag. Und sollte ich nicht dankbar sein für ein so freundschaftliches Angebot wie Deines?

Ja, M., Du hast es gut und ehrlich gemeint. Das weiß ich. Doch muß ich entscheiden, was für mich geht. Ich habe lange nachgedacht, inwieweit meine Therapie-Motivation vielleicht nicht ausreicht, ich bloß „kneifen“ will. Andererseits sind Empfindungen und Gefühle verläßliche Indikatoren, die zu ignorieren ich nicht mehr die Kraft aufbringen kann und will wie früher. Und wozu auch?

Gerade am Gegenteil arbeite ich ja. Eigentlich ist es ganz einfach: Du hast mir nicht geglaubt! Mein subjektives Gefühl der kurzzeitigen Unverträglichkeit von Schmerz hast Du in autoritärer Manier beiseite gewischt, nicht ernst genommen, es für falsch erklärt.- Kann gar nicht sein, daß das so weh tut!- Du wolltest mir quasi etwas anderes einreden, etwas, was ich Deiner Meinung nach zu fühlen hätte …, denn bei allen anderen …usw.

Da es sich keineswegs um einen provokatorischen Therapieeinfall handelte (das glaube ich einschätzen zu können), mit dem Du was „rauskitzeln“ wolltest, kann ich dieses Vorgehen, diese Nichtachtung meiner Befindlichkeit, nur als mich traurig machende Tatsache verstehen – und muß Dich als Therapeuten ablehnen. Woher willst Du wissen, was ich aushalten kann? Mag ich Deiner Meinung nach zimperlich oder stolz sein, aber solltest Du auch solche Gegebenheiten nicht erst einmal annehmen, sie als vorhandene individuelle Eigenschaften akzeptieren, die man schrittweise verändern könnte? Für mich geht nur, daß einer, der therapeutisch mit mir arbeitet, mich so annimmt, wie ich bin – der mir Empfundenes abnimmt und glaubt, auch wenn`s gelogen oder Abwehr wäre. (Ich würde mich ohnehin nur selbst betrügen, wenn ich dem anderen etwas vormachte.)

Ich muß zugeben, daß mich Dein Verhalten sehr erschüttert hat. Das war es, was ich so gut kannte: Mein gestrenger Vater nahm mir Schmerzen auch nie ab. Ich sollte mich nicht so haben! Ich übertriebe! (Und dabei diese verächtliche Handbewegung von ihm …und das höhnische Lächeln.) Auch was ich sagte, fand er meist lächerlich-oberflächlich, dumm. Die Zensuren der Lehrer für mich – fast immer Einsen – erklärte mein Vater für nicht gerechtfertigt, denn er wußte schließlich, daß ich nichts wußte. Er nahm mich nicht für voll, weil ich nicht das war, was er sich wünschte. Ich hielt später Schmerzen aus wie ein Indianer. (Erst vor einem Jahr z.B. biß sich bei einem Spaziergang ein fremder Hund in meinem Bein fest, und ich ging weiter – nachdem er endlich losließ -, als wäre nichts geschehen. Ja, ich zischte meinen Freund noch ablehnend an, als der mich besorgt zu irgendwelchen Sofortmaßnahmen bewegen wollte. Erst später im Auto, wo mich niemand beobachten konnte, sah ich mir die Wunde an.) Ärzte mied ich. Ging es dennoch nicht anders, wurde ich nur in dem bestätigt, was mein Vater mir so gründlich beigebracht hatte. Man hörte sich ungläubig meine Äußerungen an und lächelte versteckt der Schwester zu. (Klar, welcher Patient weiß schon vor dem Arzt, daß er eine Blutvergiftung hat!) – Sie haben zu schwer getragen, junge Frau! – Und sie gaben mir ein Einreibemittel gegen Muskelschmerzen …

Einmal hatte ich große Angst, weil ich mir die schmerzenden roten Knoten an den Innenseiten meiner Oberschenkel nicht erklären konnte, welche plötzlich aufgetreten waren. Ich ahnte nicht, daß ich mir in einer der kältesten Winternächte der letzten Jahre auf dem Heimweg Erfrierungen zugezogen hatte. Das ist hier selten, nicht? Deshalb kann es gar nicht sein. Ich entnahm den versteckten Andeutungen, das der Arzt mir diesmal „heftige“ Sexualpraktiken unterschieben wollte. Ich bekam wieder was zum Einreiben … (die Stellen wurden späte bläulich-schwarz und verschwanden irgendwann.)

Ach, es gibt noch mehr Beispiele. Die Ärzte wußten auch immer besser, wann genau ich schwanger geworden war, als ob sie dabei gewesen wären. Sie glaubten mir nicht, weil u. a. mein Bauchumfang nicht der Norm entsprach. All solche Erinnerungen und Bilder überschwemmten mich während und nach der Stunde bei Dir, M., sehr diffus und wuchtig zugleich. Ich hätte unmöglich sofort darüber reden können. Ich war so enttäuscht von Dir, unsäglich traurig und auch wütend.

Und bei all dem mußte ich mich auch noch zusammenreißen, weil die Räumlichkeiten dort die Lautstärke von Schreien nicht dämpfen. Aber mir war nach Schreien. Der Zwang des Nicht-rauslassen-Könnens schlug sich nieder in starken Halsschmerzen, die ich noch stundenlang spürte. Ich bremste mein Weinen mühselig in der U-Bahn, um dann zu Hause – endlich – die Schleusen zu öffnen. Es ging mir beschissen. Ich zweifle nicht am Wert der Körpertherapie, auch nicht an Deinen liebenswerten Seiten. Mag auch sein, daß Du für andere ein vortrefflicher therapeutische Helfer bist, obwohl es nach meinem Verständnis nie gut ist, wenn der Therapeut sich über den Klienten erhebt, indem er sich zur Autorität erklärt und dem anderen etwas ein- oder ausreden will, nämlich eigene Erfahrungen, Gefühle usw. aufzwingen möchte. Jeder muß wirklich seinen, ihm gemäßen Weg der Veränderung finden. Allgemeingültige Empfehlungen lassen sich nicht geben. Ich persönlich komme offenbar mit autoritären Gewaltakten überhaupt nicht zurecht. Ich habe sie mir – auch ohne Therapie – immer weniger bieten lassen, seit ich das Elternhaus verließ.

Mein Maß an Menschenverachtung ist so groß wie das der Verletzungen, die ich erleiden mußte. Und – sicher – treffe ich mit der Verachtung auch Leute, die sie nicht in dem Maße verdient haben. Ich will nur sagen, M., daß Du einfach in eine alte Wunde bei mir gestoßen bist. Damit ließe sich gut arbeiten – therapeutisch betrachtet. Aber ich denke, das ist nicht die Art, die Du beabsichtigst. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, wenn man nach einer aufwühlenden, etwas in Gang setzenden Therapiestunde auf seinen Gefühlen „sitzenbleibt“. Das kommt noch dazu bei mir. Ich muß Dir also diesen Brief hier einfach schreiben. Du brauchst nicht annehmen, was ich hier rauslasse. Es ist subjektiv. Mir aber ist es wichtig. Ein gleichberechtigtes menschliches Verhältnis zwischen Therapeut und Klient in gegenseitigen Wertschätzung und Akzeptanz (verzeih diese bemühten Kategorien) ist für mich etwas Grundsätzliches, Unverzichtbares. Du bist nicht besser als ich, nur weil Du vielleicht weniger „stolz“ und erergetisch durchlässiger bist. Niemand ist besser oder schlechter. Es gibt nur Unterschiede, keine Ränge.

L.H.

 

 

aus ICH 1/ 94