„… eine Diktatur höchsten Ausmaßes.“ Ein Brief

Man kann nicht alles im Leben auf Sexualität zurückführen. Es gibt auch noch den Lebenstrieb. Ohne Sex kann ich leben, ohne Essen und Trinken nicht. Sexuell kann ich mich selbst befriedigen. Aber ob ich ein Dach über dem Kopf habe, hängt mit von der Gesellschaft ab.

Für mich ist inzwischen klar, daß wir mit diesem Staat vom Regen in die Traufe gekommen sind. Volle Läden und schöne Häuser sind nur dekorative Kosmetik, die das Häßliche übertüncht.

Die Menschen, die Arbeit haben, müssen bis an die Grenzen ihrer Kraft gehen und haben für sich selbst keine Zeit mehr. Ihre Gefühle und Gedanken verkümmern. Die Menschen, die keine Arbeit haben, geraten mit der Zeit in Existenzangst. Man braucht die Arbeitslosen, um die Arbeitenden besser ausbeuten zu können. Wir leben in einer Diktatur höchsten Ausmaßes. Funktionierst du nicht, stehst du auf der Straße.

Im jetzigen Gesellschaftssystem zählt nur noch Geld. Wir brauchen es, um zu überleben. Das ist ganz klar. Aber lohnt dieses Leben noch?

Ich bin arbeitslos. Meine Großmutter ist gestorben. Ich trauerte und fuhr zur Beerdigung. deshalb hat man mir das Geld, es ist ohnehin wenig, gestrichen. Meine Eltern sind beide krank (Mutter hat überall Beschwerden, total verbraucht, Vater hat Krebs) und ich habe nicht die Möglichkeit, mich um sie zu kümmern, da ich dann kein Geld mehr kriege und nicht weiß, wovon ich leben soll. Ich lasse Wohnung und Arbeit in der Stadt meiner Eltern suchen und beides ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit. In der Wohnung meiner Eltern ist für mich kein Platz und soviel Geld haben sie nicht, daß sie mich miternähren könnten. Die Fahrt von meiner jetzigen Wohnung mit dem Zug dauert 4 1/2 Stunden und kostet Hin und Zurück 114 DM. 300 DM habe ich monatlich zum Leben (Miete, Strom, etc. abgezogen).

Außerdem bin ich gesundheitlich angeknackst und kriege keine Arbeit mehr. Ich bin 44 Jahre und bis zur Rente ist noch ein langer Weg. Werde ich vielleicht auch nie kriegen.

In der DDR konnte ich, wenn ich nicht ehrgeizig war, und keine überhöhten materiellen Ansprüche stellte, ziemlich gut leben. Wenn ich nicht nach oben wollte, brauchte ich der Partei nicht beizutreten und hatte meine persönliche Freiheit. Nach getaner Arbeit konnte ich machen, was ich wollte. Ich wüßte nicht, daß sich jemand in mein Privatleben eingemischt hätte.

Heute habe ich diese Freiheit nicht mehr.

Inder DDR gab es Nischen. Jetzt gibt es keine mehr. Kraß ausgedrückt, hast du zwei Möglichkeiten der ,,Freiheit“: Entweder du arbeitest dich zu Tode oder du verhungerst. Man kann natürlich auch noch in die Kriminalität einsteigen oder auf den Strich gehen, um zu überleben.

Der Sozialismus hätte von der Diktatur zur Demokratie geführt, er hätte vorangebracht werden müssen. Aber wir sind einen geschichtlichen Schritt rückwärts gegangen. Diese beiden deutschen Staaten haben sich auch nie vereinigt, sondern die DDR hat sich selbst der BRD mit Haut und Haaren ausgeliefert. Hatten wir erst die Russen als Besatzer, so sind es jetzt die Westdeutschen. Das Wort ,,Vereinigung“ ist eine Lüge.

Marion Krieg, Dresden

 

aus ICH 2/ 95