Das Ende einer sexualfreundlichen Kultur. Täter, Opfer und Motive der Hexenverfolgung

Ottmar Lattorf, befragt von Tanja Braumann

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TB.: Das Thema, das wir bereden, steht im Zusammenhang mit zwei anderen Artikeln, die in der ,,ICH“ veröffentlicht wurden – dem Gespräch über das Matriarchat mit Heide Göttner-Abendroht und der Arbeit von James DeMeo über die Entstehung des Patriarchats.

Ich will mit dir über Hintergründe der Hexenverfolgung sprechen. Wie kamen kirchliche Machthaber dazu, plötzlich so eine Gewalt gegen eine Gruppe von Menschen zu initiieren? Es ist immer schwer zu sagen, wo der Anfang für eine sozial-historische Entwicklung liegt. Wahrscheinlich muß man auch fragen: Was hat das mit der Geschichte der Kirche zu tun?

Lattorf: Das gehört tatsächlich zusammen, wobei ich die Kirchengeschichte hier grob verkürzen muß. Die Christen waren ja ursprünglich eine bedeutungslose Sekte innerhalb des römischen Imperiums. Unter bestimmten historisch neuen Umständen, nämlich in der Hauptsache denen, daß das römische Imperium an Arbeitskräftemangel litt, änderte sich das. In allen patriarchalen Gesellschaften gibt es eine herrschende Männerschicht, die auf parasitäre Art und Weise von der unterdrückten Bevölkerung lebt. Wenn nur die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung da ist, ist – jedenfalls beim damaligen Charakter der Produktion – der Lebensstandard für alle schlechter. Also sahen sie damals nur einen Weg, ihre Pfründe, ihren Lebensstandard und ihre Klasse zu verteidigen, nämlich die Region, das römische Imperium wiederzubevölkern. Und dazu brauchten sie die Christen, die sie vorher verfolgt hatten, insbesondere wegen deren Antitötungs-Moral.

Bis dahin konnten ja Sklaven, Rebellen und Frauen einfach umgebracht werden. Männer hatten außerdem das Recht, ihre Kinder anzunehmen oder nicht anzunehmen. Nicht anzunehmen bedeutete Mord, bedeutete, die Säuglinge umzubringen. Das war Usus, es war das Recht des Herren. Dieses Recht des Herren wurde den Männern durch die Aufnahme der Christen in die Regierung genommen, und ich sage nochmal deutlich: nicht aus humanistischem Fortschrittsgeist, sondern aus einem bevölkerungspolitischen Kalkül. Das war ungefähr am Ende des 3. Jahrhunderts. Zuerst wurden sie nicht mehr verfolgt, im Jahre 325 ist ihr Glaube anerkannt und 391als Staatsreligion eingesetzt worden.

 T.B.: Und hat sich die Beteiligung an der Macht irgendwie ausgewirkt auf die Moral der Christen?

Lattorf: Ja, also die Hauptforderung der Christen, wofür sie ja vorher verfolgt wurden, war neben der Antitötungs-Moral die Gleichberechtigung in Keuschheit. Diese Gleichberechtigungsforderung konnten die Christen dann nicht mehr aufrechterhalten. Das war sozusagen der Preis, den sie zahlen mußten, um in die Regierung zu kommen. Es ging um die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und zwischen Herren und Sklaven.

,,In Keuschheit“ hieß, die hatten eine ziemlich strenge asexuelle Haltung. Die haben im sexuellen Sinne – aber auch im materiellen – eine asketische Haltung gehabt, in Unterwerfung unter den Herrn, den christlichen Gott. Das haben die auch so gelebt. Das war zwar für die Bevölkerung, die ja nicht unbedingt sexualfeindlich war, (die Frauen haben damals schon verhütet, mit Rinde von Baumwollpflanzen) vielleicht ein harter Brocken, aber es war immer noch besser, mit solchen Leuten zu sympathisieren, die zwar eine gewisse Keuschheit forderten, andererseits aber dafür waren, daß die Sklaven am Leben blieben.

Das Christentum ist ja bekanntlich eine Abspaltung des Judentums. Und diese Forderung nach Keuschheit und Abstinenz ist entstanden aus der ursprünglichen Situation der Juden, die, wie wir von James DeMeo wissen, von einer ökologischen Katastrophe in der Saharasia-Region, einer gigantischen Verwüstung, indirekt mitbestimmt wurde. Die emotionalen Strukturen der Völker, die in dieser Saharasia-Region gelebt hatten, wurden dabei rigide, hart. Wenn man das weiß, kann man auch verstehen, wie diese Männer aus der Saharasia-Region hinaustreten, hinausreiten und dann hungernd und räubernd Völker überfallen.

Die erste Stufe mag gewesen sein, daß sie die einfach ausgerottet haben, aber die zweite Stufe ist die Sklaverei. Eins der ersten Völker, das von dieser Versklavung betroffen war, waren die Hebräer, die das Judentum entwickelt haben – und die moralischen Vorstellungen des Judentums sind Vorstellungen eines Volkes, das in die Sklaverei geriet. Und sie hatten auch keine Möglichkeit, unter den Emigrationsverhältnissen, ihre Sexualität auszuleben …

T.B.: … zumindest keine freie, lustvolle Sexualität.

Lattorf: Ja, genau. Und wenn man sich dann vorstellt, so ein rigides, hungerndes, plünderndes Volk überfällt ein matriarchales, weiches Sozialgefüge, dann plündern die nicht nur dieses Volk wirtschaftlich, sondern auch die Frauen werden in Besitz genommen, vergewaltigt. Man findet ja gerade in dieser Region Gräber, wo ältere Männer drin sind und drei oder mehr Frauen, denen manchmal sogar Füße und Hände abgehackt worden waren. Die Archäologen konnten nicht verstehen wieso. Aber wenn man die Art des Überfalls bedenkt, kann man sich schon vorstellen, daß die Frauen sich gewehrt haben und daß wiederum die Männer auf diese brutale Art den Widerstand der Frauen bestraft haben.

In dieser Situation – die Jahrzehnte, Jahrhunderte andauerte – entwickeln die unterjochten und gequälten Menschen natürlich gewisse ,,Tugenden“, gewisse Ideale. Wenn ich mich materiell für eine herrschende Schicht auspowern muß, dann entwickle ich das Ideal der materiellen Abstinenz. Und genauso geht es sexuell. Wenn ich als Frau nur noch Vergewaltigungssexualität kenne, und als Mann des versklavten Volkes nur hilflos zusehen kann, dann entwickle ich ein asexuelles Ideal. Diese moralischen Ideale, die die Christen hatten, sind also als Reflex, als Antwort auf die Sklaverei entstanden. Also eine Art Aufstand der Sklaven in der Moral, weil sie ansonsten dazu nicht in der Lage waren, weder militärisch noch sonst physisch.

T.B.: Soweit die Vorgeschichte. Dann können wir jetzt mal einen Sprung machen – das Hauptthema sind ja Hexen. Hexenverbrennung war zunächst ein europäisches Phänomen, und mich interessiert besonders, wie das in ,,Deutschland“ vor sich gegangen ist. Dafür ist nun wieder wichtig zu wissen, auf welche Lebensverhältnisse sind die Christen gestoßen, als sie in diese Region kamen?

Lattorf: Also die Christen sind durch diesen erwähnten Bevölkerungsniedergang in die Regierung gehievt worden. Aber die Probleme der Römer konnten durch diese moralverändernde Maßnahme allein nicht gelöst werden. Das römische Imperium ist ja dann auch zusammengebrochen. Da mußte etwas anderes gefunden werden. Das begann mit der Besiedlung verwaister Höfe durch Sklavenpaare, Leibeigene und entwickelte sich zur feudalen Gesellschaft, mit der Hörigen-Leibeigenen-Abgaben-Wirtschaft.

Die Herrschenden waren dann nicht mehr die Römer. Eins der stärksten Nachfolgeimperien hatten die Franken. Die haben dann für das deutsche, europäische Territorium die Christianisierung fortgeführt, mit den rüdesten, brutalsten Mitteln.

Die Sozialstrukturen, auf die sie hier gestoßen sind, sind schwer zu recherchieren. Man weiß auf jeden Fall, daß es Stammesstrukturen waren. Wenn man vergleichbare Stämme betrachtet, nordamerikanische Indianer zum Beispiel oder indische Regenwaldvölker, sind die Stammesstrukturen auf jeden Fall so, daß es zum Beispiel keine alleinerziehenden Mütter gibt, sondern die Frauen sind integriert in größere Clans. Das sind matriarchale Stämme, da sind die Mütter mit ihren Verwandten mütterlicherseits zusammen und der Mann heiratet da ein, ist aber wirtschaftlich wiederum nicht für die Kinder, die er zeugt und für die Frau verantwortlich, sondern für seine Schwestern und deren Kinder in seinem mütterlichen Clan.

Ob es nun mehr matriarchale oder patriarchale Stämme waren, das ist bei den Germanen nicht ganz genau herauszufinden. Die germanischen oder die keltischen Stämme haben auch nichts aufgeschrieben, weil sie keine Schrift hatten. Über diese Völker haben lediglich die Sieger geschrieben, wie zum Beispiel Tacitus, ein römischer Geschichtsschreiber; oder die Christen hatten Priester und Äbte, die über die heidnischen Sitten geschrieben haben, die es zu bekämpfen galt. Man weiß zum Beispiel auch, daß es die ,,munt“ gab. Das ist ein Bestimmungsrecht des Mannes über die Frau und die Töchter. Die ,,munt“ ist ein altes germanisches Wort, aus dem dann ,,Vormund“ geworden ist. Andere Quellen sagen – wie zum Beispiel Tacitus – daß die Germanen ,,eine eigenartige Hochachtung vor den Frauen“ hatten.

Also, die Ausbreitung des Christentums ging nicht durch Überzeugungen oder sowas vor sich, sondern durch Machtergreifung mittels militärischer Gewalt. Die ansässigen Heiden – Heide heißt übrigens lediglich „Landbevölkerung“ – haben ja auch eine Religion gehabt. Allerdings war das eine Religion, die verwurzelt war mit den Bäumen, mit der Erde, mit den Wäldern. Sie kam ja noch aus der matriarchalen Spiritualität und ist vergleichbar mit den religiösen Vorstellungen von nordamerikanischen Indianern. Das Christen- bzw. Judentum dagegen, hat nichts mit dem jeweiligen Ort zu tun. Es ist ja eine Religion, die auf der Flucht entstanden ist, auf der Suche nach dem gelobten Land. Sie ist in keiner Weise mit der Erde verwurzelt.

Aber zunächst hatte die christliche Moral auch keinen großen Einfluß auf das Sozialgefüge der Leibeigenen. Die mittelalterliche Gesellschaft wurde nur ganz langsam – und erst ab der Hexenverfolgung massiv – geprägt von der christlichen Moralvorstellung. Die Hexenverfolgung beginnt im 14. Jahrhundert. Die tausend Jahre vorher, wo die Christen auch schon am Werk sind, haben sie auf dem Land, wo die meisten Menschen lebten, eher Schwierigkeiten. Die christliche moralische Vorstellung ist eine Sache der Herrschenden und dann auch erst noch Sache der relativ kleinen und wenigen Städte.

T.B.: Was hat denn dann die Hexenverfolgung ausgelöst?

Lattorf: Man muß umgekehrt fragen, wie kam es, daß die Christen die lockeren sexuellen und zwischenmenschlichen Verhältnisse der Heiden nicht schon vorher bekämpft haben. Warum haben sie tausend Jahre lang zwar versucht, sie hier und da einzuschränken, aber die Veranstaltungen, die Einrichtungen, die Sabbate, die Badehauskultur – alles sehr locker und sexualfreundlich, gleichberechtigt zwischen Mann und Frau und überhaupt nicht autoritär – warum haben die Christen diesen heidnischen Untergrund, von dem sie wußten, nicht bekämpft?

Das ist die Frage, die die professionelle Hexenforschung, die es ja auch gibt, nicht beantworten kann.

Warum beginnt die Hexenverfolgung 1360 und nicht 1560 oder im 12. Jahrhundert? Weil es nämlich während der Zeit zwischen 750 und der Mitte des 14. Jahrhunderts ein klimatologisches Optimum gab. Die Temperaturen waren viel höher, Grönland war tatsächlich grün und an der Ostsee standen Zypressen. Die Landwirtschaft hatte optimale Bedingungen. Hinzu kamen technische Innovationen, wie zum Beispiel der schwere Wendepflug auf Rädern, die Dreifelderwirtschaft und das Pferd als Zugtier mit Hufeisen und Zaumzeug. Und das hat natürlich die Landwirtschaft ziemlich produktiv gemacht. Den Herrschenden ging es gut und selbst die leibeigenen Bauern haben mehr gehabt als das Existenzminimum. Und solange es den Herrschenden gut geht, machen die keine Kamikaze-Aktion. Das heißt: Diese relative Ruhe im Mittelalter, das Nichteinmischen der Herrschenden gegen die Hexenkultur, die Sabbate und Badehäuser, war meiner Meinung nach vor allem klimatologisch und in der Folge wirtschaftlich bedingt.

T.B.: Nun erzähl endlich mal, was die Sabbate und die Badehauskultur waren.

Lattorf: Bei beiden Veranstaltungen geht es um Geselligkeit auf der einen Seite und um vorbeugende Gesundheitspflege auf der anderen. Die Sabbate liegen noch näher an archaischen stammesmäßigen Ritualen.

Die Stämme haben ja einen ganz bestimmten Feierzyklus gehabt und der hing natürlich auch damit zusammen, wie sie wirtschafteten: entsprechend des Mondes, der Jahreszeit.

So hat man sich auch zur Sommer- und Wintersonnenwende getroffen, und zwar draußen, an schönen Plätzen, oft an Quellen. Da wurde dann sozusagen ein großes Fressen veranstaltet. Es ging aber auch darum, sich zu unterhalten und Erfahrungen auszutauschen – quasi auch eine Art Bildungsveranstaltung – man lebte ja nicht mehr in Stammesverbänden, sondern als Leibeigene voneinander getrennt, der auf dem Hof, die auf jenem. Es ging darum, sich wieder zu treffen, Traditionen weiterzugeben, es ging um Geselligkeit, es wurde gelacht und getanzt. Gerade der Tanz spielte eine große Rolle und bestimmte Traditionen wie zum Beispiel sich als Tier zu verkleiden, um bestimmte Kräfte zu erlangen; auch Pantomimen oder schamanische Anspielungen.

Worum es aber auch ging – und das kam dann besonders in der Badehauskultur zum Ausdruck – sind sexuelle Vergnügungen. Und das hat wiederum auch mit der Stammeskultur zu tun, die ja völlig in die Naturkreisläufe integriert war. Alles was wuchs, alles, wovon die Menschen lebten, sich ernährten, ist nach den Vorstellungen archaischer Gesellschaften aus der Verbindung von Erdgeistern und Sonnengeistern entstanden. Die Früchte der Natur sind selbst Produkte von Vereinigungen der Erd-, Wald- und Wiesengeister. Und diese Vereinigungen hat man dann gewissermaßen imitiert in Geschlechtsvereinigungen. Man hat geglaubt, mittels sexueller Vereinigung auf dem Feld fördere man die Fruchtbarkeit des Bodens. Naja, und die ursprünglichen matriarchalen Stämme hatten ja sowieso ein sexualförderndes Sozialgefüge.

Aber es ging, wie gesagt, nicht nur um Feiern und Festivitäten, sondern Badehäuser waren auch Mittelpunkt der mittelalterlichen Volksmedizin. Und Trägerinnen dieser Medizin waren meist Frauen, aber es gab auch Bader. Zumindest die Gynäkologie, die Frauenheilkunde, war hundertprozentig in Frauenhand. Da hatte kein Mann was zu suchen, das war normal. Ein wesentlicher Teil der Badehauskultur – nämlich der freie Umgang mit Sexualität -konnte ja nur existieren, weil die Kräuterfrauen, die Baderinnen ein hervorragendes Wissen über Empfängnisverhütungs- und möglicherweise auch Abtreibungsmittel hatten. Bei der Häufigkeit, wie überhaupt miteinander geschlafen worden ist, wären sonst Unmengen an Kindern erzeugt worden. Aber das war nicht der Fall.

Kinder bekamen die Frauen damals ja sowieso nicht einfach so, per Zufall. Wenn ein Kind zur Welt kam, wurde es dreimal geboren, einmal von der Mutter, das zweite Mal von der Hebamme – das waren dieselben Frauen, die die Kräutermischung fur die Empfängnisverhütung mischten – und das dritte Mal dann in der Gemeinschaft der Frauen. Die haben überlegt, indem sie sich das Kind angeguckt haben, ob es in der Lage ist, dieses Leben zu führen. Und wenn die das Gefühl hatten, daß Kind ist zu mickrig, zu klein, zu jämmerlich oder so, das kann möglicherweise die Härten dieser Welt nicht durchstehen, dann hat man das sanft ins Jenseits befördert. Es war zwar verboten, aber bei den Stämmen wurde das schon so gemacht und mit der Hilfe dieser Frauen, die man später Hexen nannte, die bekannt waren als weise Frauen, als Belladonna, haben die das weitergemacht.

Und in diese Zeit hinein kommt die Pest, die 1348 und über das ganze 14. Jahrhundert, in 5-Jahres- und 10-Jahresabständen sich ausbreitet, ganz Europa erfaßt und dazu führt, daß 40 bis 60 % der Bevölkerung stirbt.

Die Pest ist dadurch verursacht worden, daß es eine schlechtere Ernährung gab, teilweise Hungersnöte. Diese schlechte Ernährung wiederum entstand dadurch, daß es Ernteeinbußen gab. Und die Ernteeinbußen sind Folge einer veränderten Klimasituation. Ab 1305 – und dann bis 1880 – gibt es in Europa die sogenannte ,,kleine Eiszeit“, die dieses warme klimatologische Optimum, von dem ich vorher gesprochen hatte, beendet. Es ist sehr viel kälter und sehr viel feuchter. Es gibt Jahre, wo es in der Erntezeit so regnet, daß nichts einzubringen ist.

Das Problem, das die Herrschenden also erneut hatten, war, diesmal auf Grund der Pest, daß sie zu wenig Arbeitskräfte hatten. Die wenigen verbliebenen Bauern, die haben natürlich die Gunst der Stunde genutzt und, wie z. B. in England, viel mehr politische Freiheit gefordert. Die Großgrundbesitzer mußten jetzt um jeden zusätzlichen Bauern buhlen.

Aber die leibeigenen Frauen, die Bauersfrauen, waren nicht einfach dazu zu bewegen, anstatt 1, 2 oder keinem Kind, jetzt plötzlich 2, 3, 4, 5 Kinder zu ,,produzieren“. Das widersprach unter anderem den ökonomischen Interessen der Frauen. Das wollten die nicht, denn schon ein Kind ist Arbeit, mehr Kinder sind viel Arbeit. Und das dann kostenlos für die Herrschenden, das hat keine Frau eingesehen. Also mußten die sie irgendwie auf eine andere Art und Weise dazu bewegen, jetzt doch mehr Kinder kriegen.

Also hat man das erstmal ideologisch versucht. Man hat in der alten christlichen Schublade gekramt und jetzt die Tatsache, daß es zur Befruchtung kommt, und das Kind selbst als Willen Gottes, als was Heiliges hingestellt. Das durfte also nicht gestört werden. Aber die ganze erwähnte Genußsexualität stört diese angestrebte Zucht, weswegen man ja auch von Un-Zucht spricht. Das war dann das Hauptdelikt: Unzucht. Alles, was dazu geeignet war, Unzucht zu fördern – wie die Verabreichung von Empfängnisverhütungsmitteln – wurde unter Todesstrafe gestellt; eine Auffassung, die spätestens 1484 mittels der vom Papst verfügten „Hexenbulle“ weit verbreitet wurde.

Aber dahinter standen auch bei der Kirche die gleichen weltlichen Probleme, die wir schon genannt hatten. Man darf ja nicht vergessen, die Kirche war der größte europäische Großgrundbesitzer. Sie hat am meisten unter dem Niedergang der Bevölkerung gelitten – materiell. Und so hat man mit jener christlich verbrämten Methode den weisen Frauen, die jetzt umbenannt wurden in Hexen, sogenannten Schadenszauber unterstellt. Man hatte ja die Pest, man hatte Klimaveränderungen, Wetterverschlechterungen, Streitereien. Alle Probleme, die die damalige Gesellschaft – auch verursacht durch diesen Klimaeinbruch – hatte, wurden dann den „Hexen“ zur Last gelegt. So tauchen in der Begründung, warum man Hexen verfolgt, auch Unwetter auf oder daß der Mann von der Bäckerin durch deren bösen Blick eine Krankheit gekriegt habe.

Diese Vorwürfe waren Lügen, Denunziationen, aber auch Ausdruck von Hilflosigkeit, denn die Leute waren natürlich betroffen von all den äußeren Veränderungen und suchten Gründe dafür. Und da wurde die Schuld dafür von höchster Ebene, vom Papst und von den kirchlichen Schergen, den Hexen in die Schuhe geschoben.

 T.B.: Ein Sündenbock, an dem man sich also ohne schlechtes Gewissen schadlos halten konnte.

Lattorf: Genau, diese Sündenbockfunktion ist ihnen vom ersten wissenschaftlichen Werk, was der Buchdruck 1487 auf den Weg brachte, vom Hexenhammer – dem juristischen Kommentar zur päpstlichen Hexenbulle mit detaillierten Ausführungsbestimmungen und Anleitungen zur Hexenverfolgung – zugeschoben worden. Da steht genau drin, was Hexen alles machen. Als erste Untat wird erklärt, daß sie Männer und Frauen unfruchtbar machen. Und es wird so getan, als wäre das zum Schaden der Leute – obwohl in der Bevölkerung eigentlich fest verankert war, daß man keine Kinder in die Welt setzt, wenn man ihnen nicht die entsprechende Zukunft in der Landwirtschaft, im Hof sichern kann. Die damalige Vorstellung war: kein Land – keine Heirat. Wenn man den Kindern keine Wirtschaft versprechen konnte, dann war das normal, daß man keine Kinder kriegte.

T.B.: Jemand unfruchtbar machen, oder Empfängnis zu verhüten, sind ja zweierlei Stiefel. Das ist eine ganz leichte Wortverdrehung mit einer schweren Wirkung. Wo Fruchtbarkeit doch auf dem Lande als das höchste Gut galt, jagt einem Unfruchtbarkeit wahrscheinlich auch Angst ein, irgendwie.

Lattorf: Könnte sein, daß das der Sinn dieser ,,kleinen“ Übertreibung war. Aber dazu kam noch, die sogenannten Hexen konnten diesen Schaden nur anrichten, weil sie mit dem Teufel im Bunde waren. Der Teufel hat ihnen die Kraft verliehen, das zu machen.

T.B.: Also nicht mal das konnten Frauen in den Augen der Pfaffen allein.

Lattorf: Ohne Teufel ging da nichts. Die Sabbate waren nach der Vorstellung der Inquisition Veranstaltungen zu Ehren des Teufels, wo sie dann die Vereinigung mit dem Teufel vollzogen. Jedenfalls war das in der Vorstellung der Inquisition so, daß die mit dem Teufel im Bunde waren, daß sie sich dem Teufel verschrieben haben und daß sie dann auch sexuell mit ihm zu tun hatten.

T.B.: … den Teufel Im Leib haben, sagt man doch auch heute noch …

Lattorf: Dementsprechend hat die Inquisition, um herauszufinden, ob eine Frau eine Hexe ist, natürlich nach dem Geschlechtsakt mit dem Teufel gefragt. Und die Foltermaßnahmen waren so herb, daß sie selbst zugegeben hätten, daß sie schon mal auf dem Mond waren.

Je weiter die Hexenverfolgung fortschreitet, desto größere Teile der Bevölkerung hielten das für richtig. Diese ganzen tradierten Geschichten wie Badehaus oder Hexensabbate, das ging ja immer mehr in den Untergrund. Die Leute konnten sich nicht mehr treffen, die haben sich über die Erfahrungen, die sie gemacht haben, nicht mehr unterhalten können und der Einfluß der Inquisition und der Hexenverbrenner wurde natürlich immer größer. Und wenn ich auch nur leise Kritik angemeldet habe, dann bin ich schon gefoltert worden.

Die Folterungen hatten ja auch den Hintergrund, herauszufinden, wer sich an dem Hexensabbat noch beteiligt hat. Unter der Folter haben die Frauen dann Namen gesagt von Leuten, die sie möglicherweise gar nicht kannten. Dann wurden all die Leute vorgeladen und hatten kaum eine Chance, von dem Vorwurf, eine Hexe zu sein, befreit zu werden. Denn die Methoden, herauszufinden, ob man eine Hexe ist oder ein Hexer, waren brachial. Zum Beispiel wurde die vermeintliche Hexe an Händen und Füßen gebunden und ins Wasser geworfen. Das war die sogenannte Wasserprobe. Wenn sie dann ertrank, war es klar, sie war leider keine Hexe, aber tot. Und wenn sie irgendwie nicht ertrank, weil vielleicht eine Luftblase zwischen ihr und dem Wasser war, dann war es klar, sie war eine Hexe – und das war gleichzeitig ihr Todesurteil.

Zwischen zwanzigtausend und neun Millionen Frauen sind da umgebracht worden. Zwanzig Prozent der Opfer waren Männer.

T.B.: Es ist traurig, daß man das immer noch nicht genauer weiß – vermutlich nicht wissen will.

Die Folgen dieses Gynozid, dieses Mordes an einer ungeheuren Menge an – vor allem – Frauen, sind heute immer noch nicht öffentlich bewußt. Wenn ich allein den Einfluß sehe, den das auf die Medizingeschichte gehabt hat: Von der Kräuterfrau führte der Weg zu Chirurgen und Pharmakonzernen, und die Gynäkologie wird heute immer noch von Männern dominiert.

Lattorf: Und für unsere heutige Beziehungsfähigkeit ist natürlich wesentlich, daß wir seit der Hexenverfolgung keine guten Verhütungsmittel mehr haben, sondern Behelfsdinger. Und zweitens hat es einen Einbruch gegeben, in die körper-freundliche, sexualfreundliche Kultur der mittelalterlichen Gesellschaft in Richtung Rigidität, Sexualfeindlichkeit.

Das Umbringen von Frauen, die sich mit Empfängnisverhütung auseinandergesetzt haben, von Hexen ist angeordnet worden erst von kirchlichen Instanzen, dann vom Papst höchstpersönlich und dann ging es auch ein in die weltliche Gerichtsbarkeit. Spätestens 1507 ist es in der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls des V. und geht über in die Constitutio Criminalis Carolinga, mit den ganzen Anschlußdelikten wie z. B. Ehebruch. Diejenigen, die weiter an Genußsexualität interessiert waren, die im Sinne Wilhelm Reichs, im emotionellen Sinne gesund waren, ich sag das mal so simpel, die waren bedroht. Sie konnten ihren Ausdruck an Lebensfreude, an Sexualität nicht leben ohne Verhütungsmittel. Wenn sie dann versucht haben, an Verhütungsmittel ranzukommen, abzutreiben oder ,,liederlich“ lebten, dann waren die direkt auffällig, galten als Hexen und wurden umgebracht.

So hat man auf der einen Seite die Verhütungsmittel, auf der anderen Seite die gesündesten Menschen ausgerottet und gleichzeitig eine Moral installiert, die entsprechend der christlichen Vorstellung so ist, daß Mann und Frau zusammen leben, um Kinder zu kriegen. Der Sinn der Ehe ist das Kind. Das sagt ja heut die CDU auch. Das hat man damals zwangsinstalliert.

Also, einmal ist da der Verlust von Verhütungsmitteln, die zum Beispiel ganz einfach durch Tees verabreicht werden und wo Mann oder Frau dann eine Woche unfruchtbar sind – statt mechanischer Barriere-Verhütungsmittel, wie ,,Pariser“ oder wie die Pille, die enorme gesundheitliche Nachteile für die Frauen bringt. Aber es gibt eben immer noch eine herrschende Männerschicht in Regierung, Kirche und Industrie, die keinerlei Interesse daran hat, daß wir gute Empfängnisverhütungsmittel in die Hand bekommen. Da müssen wir uns schon selber bemühen.

Ich für meinen Teil hab recherchiert und bin auf zwei Sachen gestoßen. Zum einen: Nordamerikanische Indianer und andere Indigene haben sehr gute pflanzliche Empfängnisverhütungsmittel. Zum zweiten: Du kennst bestimmt den § 218. Mich hat interessiert, was sagt eigentlich der § 219. Und als ich den gelesen hab, bin ich bald umgefallen: Im § 219 steht, daß die Weitergabe von Wissen über pflanzliche Empfängnisverhütungsmittel, die gleichzeitig in größeren Dosierungen Abtreibungsmittel sind (das weiß ich von nordamerikanischen Indianerinnen: gute Empfängnisverhütungsmittel in stärkeren Dosen sind Abtreibungsmittel und in noch stärkeren Dosierungen sind es sterilisierende und ganz milde Dosen menstruationsfördernde Mittel, ein und dasselbe Kraut), jedenfalls daß die Weitergabe von Informationen über derartige pflanzliche Abtreibungsmittel verboten ist. Wenn ich dir also jetzt einige Rezepte geben würde, würde ich mich strafbar machen. Bundesrepublik Deutschland 1992.

T.B.: Das haut mich ja um! Was steht da genau?

Lattorf.: § 219 a) Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft: ,,Wer öffentlich in einer Versammlung oder durch Verbreitung von Schriften … Mittel, Gegenstände, Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind unter Hinweis auf diese Eignung anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt gibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder mit Geldstrafe behandelt.“

Diese ,,Mittel, Gegenstände, Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind“, waren ja wie gesagt Pflanzen, die dann in milderer Dosierung empfängnisverhütend wirken. Durch diesen Paragraphen (von 1871, genau wie § 218) findest du in der ganzen Literatur kaum Hinweise über pflanzliche Empfängnisverhütungsmittel. Sollten solche Hinweise überlebt haben nach der Hexenverfolgung, wären die mittels dieses Paragraphen in der heutigen Literatur auch verboten. Was man dennoch machen kann: Es gibt eine Liste von pflanzlichen Verhütungsmitteln, aufgestellt 1954 von Delaszlow und Hanshaw. Die haben pflanzliche Empfängnisverhütungsmitteln getestet an Mäusen. Es gibt ungefähr 60 verschiedene Verhütungsmittel, die nachweislich funktioniert haben bei weiblichen Mäusen.

Die Informationen, die die da haben, die sind von nordamerikanischen Indianern oder anderen Völkern. Es gibt Völkerforscher, und vor allem immer wieder Völkerforscherinnen, die sich mit so etwas auseinandergesetzt haben, die überall festgestellt haben, bei den Muriern oder Trobriandern, bei den Pygmäen oder bei den Lappen gibt es pflanzliche Empfängnisverhütungsmittel. Nur hier in hochzivilisierten Metropolen nicht, eigenartiger Weise. Unter den 60 verschiedenen pflanzlichen Empfängnisverhütungsmitteln aus aller Welt – aber uns interessieren ja nur die europäischen …

T.B.: Ach, sag das nicht. Wo wir jetzt ja sogar unsre Äpfel aus Chile holen …

Lattorf: Okay, aber ich möchte schon mehr von diesem Teil der Erde hier leben. Jedenfalls sind Pflanzen, die wir kennen, die man zur Empfängnisverhütung ausprobieren könnte, z.B. Schafgarbe, Osterluzei, Spargel, Hirtentäschel, weißer Gänsefuß, gemeiner Wurmfarn, Wasserdost, Obrechtskraut, Efeu, Weihnachtsstern, Majoran, Spitzwegerich, Wasserpfeffer, Schneeball, Rosmarin, Mönchspfeffer. Bei Mäusen hat es geklappt. Ob sie bei Frauen funktionieren kann man schlecht überprüfen – sie werden dann schwanger oder nicht. Da sind die Männer gefragt. Es müßten Männer über einige Tage oder Wochen diese Tees trinken und dann ihr Sperma untersuchen lassen auf Fruchtbarkeit. Ich habe bereits damit angefangen und vier verschiedene Kräuter untersucht.

T.B.: Das klingt relativ einfach, wie die meisten wirklich wichtigen Sachen.

Lattorf: Das ist sehr einfach. Man kann das mit einem Mikroskop sogar allein machen. Und wenn ich die ersten Ergebnisse habe, könnt ihr sie ja veröffentlichen.

 

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