Besuch uns doch mal. Eine Kurzgeschichte

von Kai Becker

Gerd und Inge haben mich zum Abendbrot eingeladen. Gerd empfängt mich an der Tür, er hat die Ärmel bis weit über den Ellbogen hochgekrempelt, seine Unterarme sind naß. Im Hintergrund höre ich Wasser aus der Leitung laufen und Geräusche kräftigen Schrubbens. Du kommst spät, sagt er, zieh Dir die Latschen hier an und komm gleich mit zum Waschen. Waschen? Frage ich. Er schiebt mich ins Bad. Seit ich das letzte Mal hier war, haben sie drei weitere Waschbecken eingebaut. An einem davon steht jetzt Inge und bürstet sich die Hände. Ihre Haut ist rot. Das Wasser dampft. Gerd dirigiert mich an das Becken daneben und dreht den Hahn auf. Ich zögere, das Wasser scheint mindestens sechzig Grad zu haben. Na los doch, sagt Inge, benutz die Bürste, aber nicht kürzer als zehn Minuten. Irgendwie klingt sie so überzeugend, daß ich nicht zu widersprechen wage.

Sie nimmt einen grünen Kittel vom Haken neben ihrem Waschbecken und zieht ihn sich über, dann eine grüne Haube und einen Mundschutz. Ich blicke sie fragend an. Die Sachen für Dich hängen schon da, sagt sie. Tatsache, die beiden sind auf Besuch eingerichtet. Neben meinem Waschplatz hängt eine gleiche Uniform. Die Handschuhe sind hier! Sie hat eine Schublade geöffnet und reißt ein eingeschweißtes Päckchen auf. Gerd ist schon fertig und hilft mir in den Kittel. Macht Ihr das jetzt immer so? frage ich. Gerd sieht mich sehr ernst an. Ja, sagt er. Sie wollen mir bestimmt eine schräge Show liefern, denke ich, komisch, so einen abwegigen Humor kenne ich bei ihnen gar nicht. Gerd streut etwas Puder in ein Paar Handschuhe und streift sie mir über. Über der Tür zur Küche leuchtet es in roter Schrift:

Bitte Ruhe!

Abendbrot! 

Der Tisch ist mit grünen Tüchern abgedeckt. Daneben steht ein verchromtes Beistelltischchen auf Rädern, das eine rechteckige Glasschale mit Besteck trägt. Beim Nähertreten sehe ich, daß die Tücher auf dem Tisch hier und da Öffnungen lassen, durch die man Käse, Wurst, Butter und Schinken sieht. Geh nicht so dicht rann! ruft Inge, ich leite die Operation. Sie knipst die monströse, offenbar selbstgebaute Lampe über dem Tisch an und Tausende von Watt füllen die Küche mit gleißendem Licht. Gut, daß Du da bist, sagt Gerd, da haben wir einen zum Hakenhalten. Zum was? – will ich noch fragen, aber da drückt er mir schon zwei umgebogene Rouladennadeln in die Hand. Gleich in den Schinken damit, sagt er. Ich verankere sie tief in der Räucherware. Skalpell! – befiehlt Inge, und Gerd reicht ihr ein spitzes Messer. Sie schneidet behutsam drei Schieben vom Schinken herunter. Zange! Gerd steht bereit.

Langsam fange ich an zu verstehen. Ich greife mir eine Petrischale und halte sie ihr für die Schinkenscheiben hin. Anerkennendes Nicken von Inge. Säge! Damit muß das Brotmesser gemeint sein. Ja, richtig.

Inge schneidet Brot, ich halte Haken, Gerd die Zange, wie gehabt. Und das macht ihr jetzt immer so? – frage ich. Sag ich doch, sagt Gerd. Als Gerd aus der Chirurgie kam, erklärt Inge, damals wegen des Blinddarms, da hatte ich erstmal natürlich Probleme damit. Aber ich bin dann ja auch gleich gegangen – Wegen der Mandeln, sagt Gerd. – Ja, wegen der Mandeln. Mußt Du Dir mal vorstellen, ich hatte immer noch Mandeln drin. Jedenfalls machen wir das seither immer so. Eigentlich möchte ich überhaupt nicht mehr mit anderen Leuten essen, wenn die nicht auch in der Chirurgie waren, sagt Gerd und reicht mir eine Spritze mit flüssiger Butter. Aber du paßt dich gut an, das muß man Dir lassen. Irritiert verabreiche ich dem Schinken eine Injektion. Ins Brot, Mensch, schreit Gerd. Tupfer! bietet mir Inge an. Nein danke, lehne ich höflich ab. Macht man aber so, beharrt Inge. Aber ich bleibe standhaft. Jetzt verliert Gerd die Geduld. Immer dasselbe mit den Unoperierten, knurrt er. Du solltest auch endlich mal den Doktor ranlassen. Mit der Warze da auf der Backe willst Du doch wohl nicht Dein ganzes Leben lang herumlaufen. Eigentlich komme ich mit der ganz gut klar, wende ich ein. Eigentlich ist ein absolut antichirurgisches Wort, gibt Inge zurück. Wirklich, wir würden es richtig gern sehn, wenn du auch operiert wärest. Jawohl, sagt Gerd, das hat noch keinem geschadet. Ich gehe übrigens auch bald wieder, Hühneraugen. Es klingt stolz und aufgeregt. Ich auch, sagt Inge, ich weiß nur noch nicht, weswegen. Vielleicht sollt ich mir ja den Busen verkleinern lassen. Gerd wiegt nachdenklich den Kopf: Immer noch besser als gar nichts. Aber Du, Du hast so einen schönen Grund mit der Warze da, das solltest Du wirklich nicht verpassen. Wirklich? frage ich. Wirklich, sagt Inge. Wirklich, sagt Gerd.

Nun gut, ich werde es mir überlegen. Vielleicht ist es doch besser, wenn ich mir den Schandfleck aus dem Gesicht schneiden lasse. Allerdings kann ich mich noch nicht an den Gedanken gewöhnen, mein Leben dann wie Gerd und Inge zu führen. Das Abendbrot ist jetzt vorbei, das heißt fast. Inge sterilisiert das Eßbesteck, Gerd vernäht die Lebensmittel. Bei Schinken und Salami ging das recht gut, nur mit dem Brot hat er einige Schwierigkeiten. Die beiden haben mir angeboten, ich könne bis zum Frühstück bleiben, wenn die Fäden gezogen werden. Aber das mach ich nicht, ich habe die Betten hier gesehen. Die Narkosemaschine am Kopfende beunruhigt mich.

 

P.S.: Keiner meiner Freunde benutzt das Skalpell zum Stullenschmieren, aber einige haben eine Psychotherapie gemacht. So auch ich; und auch ich war eine Weile danach unwillig, in die „Realität“ zurückzukehren. Die für die Außenstehenden bisweilen grotesk anmutenden Versuche, die schön funktionierende Welt einer Therapiegruppe in den Alltag zu verpflanzen, indem man einfach an ihren Formen festhält, sowie die mir immer wieder begegnenden Anwandlungen von Bekehrungseifer und Intoleranz haben beiliegende Geschichte inspiriert. K.B.

 

 

 

aus ICH 1/ 94