Aufschwung

von John Erpenbeck

John Erpenbeck, geboren 1942, ist Physiker, Philosoph und Schriftsteller. In seinem neuesten Buch beschreibt er ein Schicksal, das ihn in mancher Hinsicht auch selbst hätte treffen können: Der in DDR und Ausland angesehene marxistische Philosoph und Professor Edgar Rothenburg wird nach der Wende „abgewickelt“ und fristet von da an ein sinnarmes Einsiedlerleben in seinem kleinen Haus am Rande von Berlin. Aus seiner Resignation reist ihn erst seine neue Freundin Gerda – und deren Idee, eine ehemalige Freizeit-Spielerei Rothenburgs zu seinem neuen Beruf zu machen: Das Handlesen. Und so beginnt eine fast märchenhafte Erfolgsstory, eine traumhafte Nachwende-Biografie – mit einem leicht traumatischen Ende. In den folgenden beiden Kapiteln befinden wir uns jedoch noch ganz am Anfang dieses „Aufschwungs“.

***

Beichtbrüder und -Schwestern

Siebenundfünfzig Briefe waren nach Erscheinen der ersten Anzeige eingegangen.

Sie war äußerst wirkungsvoll gestaltet und stach aus der ganzen Seite mit Kleininseraten unübersehbar hervor: Ein schwarzer, ein weißer Pfeilwinkel, sternförmig ineinandergekeilt, einerseits wie ein wissenschaftliches Symbol, andererseits wie ein geheimnisvolles Runenzeichen wirkend, bildeten den Blickfang. Der Text versprach zugleich eine “wissenschaftlich fundierte Diagnose von psychischen Zukunftspotentialen” und eine “nach neuesten Erkenntnissen der Chiromantie zu ca. 85 % zutreffende Schicksalsprognose”. Er wirkte sicher nicht weniger als die Graphik. Der Name des angeblich inserierenden Instituts, Tes Chiros, aus einem griechischen Wörterbuch als “ek tes Chiros” geklaubt und verkürzt, klang geheimnisvoll genug, hieß aber nichts anderes als “aus der Hand” und wies so auf den Sinn des Unternehmens hin. Zugleich verbarg er die Identität des Handlinienlesers.

Gerda entwickelte Tatkraft, die Edgar der zierlichen Person kaum zugetraut hätte. Sie brachte in wenigen Tagen das Haus in Ordnung, besser als je Elisabeth, die Haushälterin. Sie räumte das Speisezimmer um, stellte Edgars Empireschreibtisch in Zimmermitte und den schweren Ledersessel so davor, daß es wie ein luxuriöser Ordinationsraum aussah.

Sie zog zu ihm, vorerst und vorläufig, wie sie betonte. Ihre alte Wohnung behielt sie.

Der zwanzigste Mai 1991 wurde zum denkwürdigen Tag: die ersten “Klienten” – wie sie Gerda neutralisierend nannte – waren geladen. Zwei Männer, eine Frau im Stundenabstand. Edgar war nervös wie nie seit seinem Habilitationsverfahren. Er ging ruhelos durch die Wohnung, durchblätterte wieder und wieder Handlinienlesebücher, die Gerda auf seinem Schreibtisch zusammengestellt hatte, als könne er noch in den letzten Minuten seine Erinnerung an früher Geübtes oder in den letzten Tagen Memoriertes aufbessern. Er starrte auf ein Bild der wichtigsten Berge, Bezirke und Linien der Hand, das er sich als Gedankenstütze gemalt hatte und versuchte, sich nochmals jede Einzelheit einzuprägen. Mechanisch trank er Kaffee, den Gerda ihm zur Stärkung hingestellt hatte, den Kuchen rührte er nicht an. Pünktlich um vier Uhr nachmittags klingelte es.

“Guten Tag, ich komme wie verabredet, aufgrund der Anzeige” hörte Edgar draußen eine Männerstimme sagen. “Ich bin doch richtig hier, Tes Chiros? Weil draußen kein Schild ist…”

“Selbstverständlich. Kommen sie herein, junger Mann”, antwortete Gerda. “Wir wollen absolute Diskretion für unsere Klienten. Politiker, Unternehmer, Künstler. Deshalb verzichten wir auf ein Institutsschild. Sie verstehen?”

“Natürlich” murmelte der Mann. Gerda klopfte an die Tür zum Ordinationsraum.

“Herr Professor, darf ich den Nächsten hereinkommen lassen? Hier die Akte.”

“Aber bitte, treten sie näher.” Edgar nahm die Akte entgegen, in die ein paar leere Seiten und ein Blatt mit Namen, Geburtsdatum und Berufsangaben des ersten Klienten geheftet waren: Horst Pfeiffert, geb. 1944, Fachingenieur für Rechentechnik.

“Lieber Herr Pfeiffert” begann Edgar Rothenburg eine Eröffnungsrede, wie er sie ähnlich in Zukunft vielmals würde halten müssen, “zunächst: wir freuen uns, daß sie den Weg zu uns gefunden haben. Wir sind ein wissenschaftlich arbeitendes Institut. Unsere Erfahrungen und Methoden knüpfen an die Chiromantie vergangener Jahrhunderte an – aber so, wie die wissenschaftliche Astronomie an Astrologie. Die moderne Wissenschaft bestätigt, daß Handformen und Handlinien als Ausdruck psychischer Potentiale gelesen werden können. Diese gestatten ihrerseits statistische Aussagen zu künftigen Entwicklungen, zum zukünftigen Lebensweg. Sie – als Techniker – wissen natürlich, daß Prognosen nie hundertprozentig sicher sind. Wir können uns irren – wie sie. Wir können keine Lebensrezepte liefern, aber Lebenshilfen, vielleicht.

Ich bitte sie, auf diesem Formular zu bestätigen, daß ich den Abdruck ihrer Handflächen nehmen und zu wissenschaftlichen Zwecken, natürlich anonymisiert, weiter verwenden darf. Auf der Grundlage dieser Linienbilder und ihrer Problematik, die sie mir so weit wie für meine Arbeit nötig anvertrauen sollten, werde ich eine erste Prognose erstellen. Die Ergebnisse der gründlichen Linienvermessung und ein zusammenfassendes Protokoll geht ihnen dann in einigen Tagen zu. Mit ihrer Unterschrift verpflichten sie sich, uns zumindest zweimal in den nächsten beiden Jahren kurz über Zutreffen oder Nichtzutreffen der Prognose zu unterrichten.

Wir garantieren unsererseits im Formular, wie sie sehen, die strikte Einhaltung der Schweigepflicht bei allen Problemen und Informationen unserer Klienten. Darf ich sie nun um ihre Unterschrift bitten?”

Beeindruckt setzte Pfeiffert seinen Namenszug neben den Rothenburgs im Vordruck.

“Danke. Würden Sie sich jetzt bitte einen Moment nach nebenan begeben? Meine Assistentin wird dort die Handabdrücke nehmen. Fräulein Gerda?”

“Schon da, Chef.” Sie führte den ältlich aussehenden Mann mit den herabhängenden Mundwinkeln und der geknickten Figur in den Nebenraum. Auf einem kleinen Tisch lagen die notwendigen Utensilien bereit. Sie walzte auf einer Glasplatte wasserlösliche schwarze Abdruckfarbe mit der üblichen Gummirolle zum dünnen Film aus und schwärzte erst die linke, dann die rechte Handfläche des Mannes mit der Rolle ein. Dann legte sie edle Reispapierbogen über ein kleines aufgewölbtes Lederkissen und drückte die Handteller darauf. Die entstehenden Linienbilder waren überaus deutlich. Natürlich hatte Gerda zuvor die Prozedur an Edgar geübt, doch war sie froh, daß diese auch nun, im Ernstfall, so gut gelangen.

Stolz legte sie Edgar, der am Schreibtisch sitzen geblieben war, die Blätter vor und bat Pfeiffert, nachdem er sich gesäubert hatte, wieder zum Ledersessel. Dann ließ sie die Herren allein.

Rothenburg nahm sich Zeit. Er blickte lange auf die vor ihm liegenden Abdrücke überraschend plumper, verarbeiteter Hände: Der Mann war kein Denker. Eher Handwerker, Bastler? – Die Lebenslinie lief lang und ungebrochen um den Handballen. Langlebigkeit? Ausdauer? – Kleine Abwärtszweige entsprangen der Lebenslinie. Enttäuschungen? Psychische Probleme? – Kopf- und Herzlinie kamen sich bedenklich nahe. Gefühlstiefe? Überempfindlichkeit? – Die Schicksalslinie erschien seltsam zerklüftet. Entschlußschwäche? Schwierigkeiten, die Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen?

“Noch weiß ich nichts von ihnen, und doch, ich sehe…”

“Was? Ja was denn, um gotteswillen?” Pfeiffert wirkte verwirrt. Skeptisch, aber hoffend war er gekommen, unfähig, aber willens, zu glauben. Handlinienlesen hatte er bisher für Humbug gehalten, doch wollte er in verzweifelter Situation auf das Quentchen “vielleicht doch…” nicht verzichten. Deshalb hatte er auf das Inserat reagiert. Dessen wissenschaftsähnliche Formulierungen wirkten für ihn vertrauenerweckend. Seit der Handabdruck – Zeremonie war er glaubensfähig. Wartete auf eine – nur eine – Wahrsage…

“Gegensätze sehe ich. Ihr Leben beeinträchtigende Gegensätze. Sie waren nie ernstlich krank, werden lange leben.”

“Aber…”

“Aber sie fühlten sich oft genug angegriffen, kleine Herzattacken, Mißgefühle, Niedergeschlagenheit.”

“Pfeiffert starrte sein Gegenüber überwältigt an: ”Das stimmt, ganz genau!”

Sekundenkurz erinnerte sich Edgar der ersten Wiederbegegnung mit Gerda vor vier Wochen – war das wirklich erst vier Wochen her? – und ihrer Reaktionen auf seine Handlesekünste. Auch bei ihr die schnelle Gläubigkeit, die unkritische Gefolgschaft nach der ersten, halbwegs zutreffenden Bemerkung, die unbewußte Hilfe durch eigene Beisätze.

“Immer wenn ich Konflikte im Betrieb hatte, ging´s mir schlecht” bestätigte Pfeiffert. “Dabei wollte ich immer das Beste, für die Kollegen, für die Arbeit, für den Betrieb.”

“Ihre Ausdauer, ihre Zähigkeit wurden wohl geschätzt, nicht wahr?” Rothenburg blickte dem Mann ins Gesicht, registrierte, daß sich die hängenden Mundwinkel in leichtem Lächeln hoben, ohne die melancholische Miene wesentlich zu ändern. “Dagegen stieß man sich an ihrer Überempfindlichkeit, dem leichten Enttäuschtsein. An Nörgelei, vielleicht? An querulantischer Krittelei?”

“Jetzt machen sie mir denselben Vorwurf wie meine Kollegen, wie die Personalabteilung bei meinem Rausschmiß. Woher wissen sie das alles?”

“Ihre Hände…”

“Meine Hände? Meine Hände…” Er starrte in seine Handflächen wie in ein hieroglyphisches Buch. “Steht da auch drin, daß ich mich für meine Arbeit zwanzig Jahre lang aufgeopfert habe? Wenn einer unserer Computer kaputt war, stand ich bereit, buchstäblich Tag und Nacht. Was hab ich mich mit den ersten russischen Großrechnern rumgequält. Was hab ich repariert, programmiert, organisiert, um unseren heimischen Geräten Hochleistungen abzuzwingen und sie kompatibel zu machen mit westlichen Geräten, die wir aus aller Herren Länder, offiziell und inoffiziell importierten. Durch wieviel dicke Wälzer, durch wieviel Lehrgänge habe ich mich gequält. Der Erfolg war, daß man mich nach der Wende als einen der ersten rausschmiß. Das Unternehmen brauche junge Leute, teamfähig, keine Einzelkämpfer. “

Rothenburg schaute wieder auf die Abdrücke. “Und Organisatoren, Manager, keine Bastler, nicht wahr?”

“Das – sehen sie aus meinen Handlinien?”

“Falsch?”

“Im Gegenteil. Wir brauchen keine Bastler und Improvisatoren mehr, war einer der entscheidenden Vorwürfe. “ Dann brach es aus ihm heraus: ”Verstehen sie, ich war kein Genosse, nie Leitungskader, nicht einmal in der Gewerkschaft. Ich war nichts als ein Ingenieur. Ein guter Ingenieur, denke ich. Warum ich, warum? Wie soll es bloß weitergehen…”

Er schien dem Weinen nahe, doch faßte er sich. Brav reichte er Rothenburg die Hand hin, der sie unter leuchtender Großlinse lange studierte, weniger, um neue Sichten zu gewinnen, als um seiner Anteilnahme Herr zu werden.

“Da ist eingezeichnet, wie es weitergeht” sagte er schließlich und deutete vage auf einen Strich oberhalb der Kopflinie, der bei gutem Willen als Erfolgslinie gedeutet werden konnte. “Hier ein stetiger, gleichsam zäher Lauf der Linie, dünn, kontinuierlich…von zahlreichen Nebenlinien bedrängt, und durchschnitten von winzigen, scharfen Rissen. Da der Bruch. Deshalb sind sie hier. Doch, sehen sie…”

Rothenburg beugte sich näher zur Hand, auch Pfeiffert beugte sich vor, fragte wie atemlos: ”Ja…und?”

“Kurz zwar, aber breiter und ungefährdet zielt sie von hier ab auf den Zeigefinger, verheißt wirklichen Erfolg. Ganz auf sie allein gestellten Erfolg.”

Er ließ Pfeifferts Hand, die schlaff in der seinen gelegen hatte, und lehnte sich zurück. Sein Blick verlor sich ins Weite. “Lassen sie mich raten. Ein bißchen Spekulation, ein bißchen Prophetie. Sie finden eine winzige Firma, einen Computerladen, ein Servicegeschäft, einen Pannendienst, dergleichen. Ihr Chef führt die Bücher, schafft das Material heran, sie werden zur Seele des Ganzen, ein unersetzlicher Spezialist und Zauberer. Das muß es heißen…”

“Bisher habe ich nur an größere Unternehmen Bewerbungen geschickt. Fast hundert; erfolglos. Sie meinen, ich sollte mich bei solchen Kleinunternehmen bewerben?”

“Ich meine nichts”, antwortete Rothenburg betont hoheitsvoll. “Ich lese Zeichen und Hinweise in ihrer Hand und leite daraus Folgerungen ab. Handeln müssen sie selbst. – Ich denke, wir haben einen vorläufigen Abschluß erreicht?”

Pfeiffert sprang auf, als hätte er einen Befehl erhalten: ”Jawohl. Meine Zeit ist auch abgelaufen. “ Er lachte gequält, als er sich des Doppelsinns der Worte bewußt wurde. “Darf ich noch fragen: was habe ich zu bezahlen?”

Wie oft hatten Edgar und Gerda Antworten auf diese Frage bedacht, persönliche und juristische Konsequenzen abgewogen, sogar die Form der Forderung, die sie – hoffentlich! – vielmals würden stellen müssen, genau überlegt. Dennoch ging sie ihm jetzt schwer über die Lippen, er fühlte sich als Bettler und Ausbeuter zugleich, erniedrigt und schäbig: ”Unser Institut erhält sich aus privaten Zuwendungen und Projektforschungen. Wir wollen, wir dürfen keine Honorare nehmen. Persönliche Spenden sind uns dagegen jederzeit willkommen. Sie finden draußen neben der Eingangstür eine Art große Sparbüchse; ein Ablaßkasten übrigens, dreihundert Jahre alt. Spenden sie, was unser Dienst ihnen wert war. – Auf Wiedersehn, und, wie gesagt, sie hören von uns; wir hören – sicherlich Gutes? – von ihnen.”

Kaum hatte der Mann die Tür hinter sich geschlossen und das Grundstück verlassen liefen die beiden wie Kinder, die den Inhalt ihrer Sparbüchse ständig kontrollieren, zum Kasten. Zwei Hundertmarkscheine lagen darin.

“Donnerwetter!” Sogar Gerdas optimistische Erwartungen waren weit übertroffen.

“Zweihundert Mark pro Stunde…So viel hab ich noch nie im Leben verdient. Nicht einmal in meinen besten Zeiten.”

“Rechnen wir im Durchschnitt nur mit hundert Mark pro Klient. Drei Klienten pro Tag, fünf Arbeitstage pro Woche, der Monat mit vier Wochen angesetzt ergibt sechstausend Mark. Unversteuert. Kein schlechtes Einkommen bei drei Arbeitsstunden täglich. Und die restliche Zeit gehört dir. Nein uns…Ist das nicht besser als irgendeine Professur in Posemuckel, selbst wenn du sie bekämst – mit übervollen Hörsälen, konfliktgeilen Studenten und Kilos von Beleg- und Abschlußarbeiten, durch die du dich quälen mußt? Du mußt dich nicht geistig verbiegen in neuer Unfreiheit, nicht verbeugen vor neuen Herren. Was willst du mehr?”

“Meine kleine Kauffrau.” Er küßte sie auf die Stirn. “Wer nicht selbst vor Studenten gestanden, nicht selbst geforscht und publiziert hat, wird den unvergleichlichen Reiz akademischer Arbeit kaum verstehen. Glaub mir, ich ginge nach Posemuckel, sofort. Würde mich wahrscheinlich verbiegen und verbeugen, hab´s ja hinreichend geübt. Aber auch Posemuckel gehört zur deutschen Bundesrepublik, ist staatsnah und würde mich deshalb wegen Staatsnähe nicht berufen. Was soll´s. Ich bin froh, daß du auf die Idee hier gekommen bist, bin dir richtig dankbar…”

“Geschenkt.”

Es klingelte. “Das ist schon die Nächste. Eine gewisse Roswitha, den Nachnamen hab ich vergessen. Lehrerin, abgewickelt, arbeitslos. Versuch es noch einmal mit dem Prinzip Hoffnung…”

Die gleiche Eröffnungszeremonie, die gleiche Handabdrucksprozedur, die gleichen Zukunftsängste – und doch ein völlig anderer Fall. Roswitha Thalmer, vierzig, geschieden, war Lehrerin und Schuldirektorin in einem kleinen Thüringer Ort gewesen. Geliebt von den Kindern, geachtet von den Eltern, anerkannt von den Kollegen. Genossin, selbstverständlich, zugleich Chefin eines landesweit bekannten Schulchores, Leiterin einer beispielhaften Arbeitsgemeinschaft schreibender Schüler, Mitglied des Jugendhilfeausschusses in der Kreisstadt, aktiv im demokratischen Frauenbund Deutschlands, in der Nationalen Front, in der Volkssolidarität. Als sie von einer Ehrenkomission aus westdeutschen Studienräten und eher mäßigen, aber als Kämpfern gegen die rote Diktatur anerkannten ostdeutschen Lehrern aus Amt und Arbeit gejagt wurde, gab es Schülerstreiks, zahlreiche Eltern protestierten beim Landesministerium; natürlich erfolglos. Sie zog nach Berlin, fand, aufgrund einer “Arbeitsbeschaffungsmaßnahme”, Anstellung in einer Beratungsstelle der “Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse. ich e.V.”, welcher sie gleich nach der Wende beigetreten war. Seit fünf Monaten war sie arbeitslos und litt darunter wie die Ratsuchenden, die sie ein Jahr lang betreut hatte.

“Es ist nicht das Geld” beteuerte sie, “ich komme mit sehr wenig aus, wirklich. Es ist der Verlust von Lebenssinn und Zukunft, der mich quält. Verstehen sie: Ich habe unser Land für das bessere gehalten. Mir waren viele Mängel bewußt, ich wußte, daß es so nicht weitergehen kann. Aber in diesem besseren Land waren doch die elementarsten Menschenrechte gesichert, das Recht auf Arbeit und aufs Wohnen. Heute weiß ich mehr denn je, was das bedeutet…Was hab ich alles versucht, um einen neuen, meinen persönlichen Lebenssinn zu finden. Hab mich mit Sozialökologie und Yoga, Esoterik und Psychoanalyse beschäftigt. Hab an einem Meditationskurs teilgenommen und mich zur Bibliotherapeutin ausbilden lassen. Da steh ich nun, bin zwar klüger als zuvor, aber genauso arbeitslos.”

Zur Tes Chiros war sie teils aus professionellem Interesse gekommen – sah sie darin doch zurecht auch eine Art Beratungsfirma -, teils aus dem Wunsch, sich selbst beraten und die Zukunft bestimmen zu lassen.

Edgar absolvierte nun schon fast ein wenig routiniert die erste allgemeinere Auslegung ihrer Charakterpotentiale, der Stärken und Schwächen ihres Persönlichkeitsbildes, ihrer Lebenserwartung und künftiger Partnerschaft. Mit Blick auf die Handlinien verhieß er ihr einen wohlhabenden Mann in gesicherter Position und Arbeit im Sozialbereich, bei der sie all ihre organisatorischen, pädagogischen und musischen Fähigkeiten würde entfalten können.

Auch sie war für die als Voraussagen vermummten Ratschläge überdankbar: “Ob es eintrifft oder nicht – sie vermögen so ein Gefühl von Zukunftsgewißheit zu vermitteln, während andere Beratungen, ganz sicher auch meine eigenen, bestenfalls ein wenig Hoffnungslosigkeit abbauen. Ich habe in der einen Stunde mehr begriffen als in manchen Wochenendseminaren. Dafür danke ich ihnen vielmals. Sicher ist ihr Unternehmen noch neu? Ich habe früher nie etwas davon gehört oder gelesen; es wäre mir aufgefallen. Doch wenn auch ich eine Voraussage wagen darf: der Tes Chiros steht eine große Zukunft bevor. Wer Zukunft vorhersagt, hat Zukunft..” –

“Ein gutes Omen? ”fragte Gerda den Freund, kaum war die Frau fort.”

“Kann es ein besseres, kann es ein ehrlicheres Lob geben?” Edgar spürte, daß er mit seinen Handlinienanalysen zwischen Ratschlag und Therapie auf richtigem Wege war. Ein Gefühl von Zufriedenheit mit sich selbst, wie er es seit dem Wendejahr nicht mehr verspürt hatte, überwältigte ihn.

Nachdem sie feststellten, daß der resoluten Frau die Stunde einhundertundfünfzig Mark wert gewesen war, kannte die gemeinsame Freude kaum Grenzen. Der erste Klient war also kein Zufallstreffer. Hilfe wurde zur Selbsthilfe, Gerdas Rechnung ging auf: ”Die Zukunft hat schon begonnen …”

Doch der nächste Klient riß Rothenburg schonungslos in die Vergangenheit zurück. Als er draußen dessen tiefe, leicht brüchige Stimme vernahm, kam sie ihm vage bekannt vor. Als er dem Mann gegenüberstand, wußte er sich vor Überraschung und Schreck kaum zu fassen: “Mensch, Werner, du?” Fast gleichzeitig sagte der: ”Du,Edgar? Ich kanns nicht glauben…Der Ober-Histmatschik und Parteisekretär der Klasse Gesellschaftswissenschaften – ein Handlinienleser …”

“Und wie kommt der Ober-Ägyptologe und Klassensekretär Professor Heinze dazu, zum Handlinienleser zu gehen?” schlug Edgar zurück, kaum hatten sie in seinem Arbeitszimmer Platz genommen.

“Gute Frage. Langeweile. Neugier. Auch fachliche: Meine Ägypter haben schließlich nicht nur Traumdeutung und Wahrsagen vervollkommnet, sondern waren auch die Meister des Handlinienlesens. Während unser letzten Grabungskampagne 1990, haben wir Papyri gefunden, die wohl nur als Lehrbücher der Chiromantie zu deuten sind. Ob wir mit dieser Deutung recht haben, werde ich allerdings kaum mehr erfahren. Unsere Ausgrabungen, vom armen Deutschländchen einst großzügig finanziert, sind vom reichen Deutschland aus Kostengründen abgebrochen wurden. Meine drei wichtigsten Mitarbeiter sind abgewickelt; einer hat gottseidank eine lukrative Anstellung bei der Deutschen Bank gefunden. Ich bin unverzüglich pensioniert worden, sitze zuhaus und verprasse meine Strafrente, wenn ich nicht irgendwo in der Welt Gastvorlesungen halte; draußen schätzt man mich noch…Da hats mich interessiert, wie heute Chiromantie betrieben wird. Ein bißchen abergläubisch bin ich natürlich auch, wollte wissen, ob die Zukunft noch Überraschungen für mich bereithält. Aber das ist ja nun hinfällig.”

“Wieso eigentlich?” Rothenburg verteidigte sich durch Angriff: “Du kannst von mir erfahren, wie heute Chiromantie betrieben wird, da bin ich nämlich – du wirst es nicht glauben – Fachmann. Ich kann dir ihre Philosophie erläutern, kann deine Zukunftspotentiale bestimmen.” Er begann einen wissenschaftlichen Vortrag zum Thema, wie er ihn auch im Plenum der Akademie hätte halten können. Alles Angelesene ordnete sich, ihn selbst überraschend, zu einem scheinbar stimmigen historischen Bilde. Das ehrwürdige Alter der Chiromantie deutete er als wissenschaftliche Würde. Aus der Logotherapie übernahm er den Gedanken, in offener Gesellschaft, angesichts offener Zukunft, sei der Mensch auf sich selbst existentiell rückverwiesen, müsse sich seinen Sinn selbst setzen und brauche deshalb Zukunftsbilder als Sinnbilder. Indem das Handlinienlesen solche Zukunftsbilder entwerfe, befriedige es den Willen zum Sinn und helfe damit existentiell. Gebe es etwas Wichtigeres in diesen Zeiten des Umbruchs?

Heinze hatte erst amüsiert, dann mehr und mehr überrascht zugehört und fand sich schließlich genötigt, Rothenburgs Ableitungen zuzustimmen. Der gewann zunehmend Selbstsicherheit zurück, je mehr sein Kollege “tatsächlich”, “genau so ist es”, dem kann man nicht widersprechen” murmelte. Es war ein kleiner Triumph, als ihm Heinze schließlich die Hand zur Analyse reichte.

Edgar ging äußerst behutsam vor, blieb beinahe ausnahmslos im Allgemeinen. Prophezeite Langlebigkeit, wozu bei dem ausgrabungsgestählten Mann wenig Sehergabe gehörte. Sagte eine baldige Wiederanerkennung seines wissenschaftlichen Werks voraus, auch dies eine Selbstverständlichkeit bei dem weltbekannten Forscher. Zuletzt orakelte er von einer besonderen Überraschung im nächsten Jahr, die mit der heutigen Begegnung verbunden sei.

Auf dem Weg zur Tür bat ihn Edgar, über den Besuch Schweigen zu bewahren. Nicht daß er sich vor den einstigen Akademiemitgliedern schäme, er habe aber weder Zeit noch Gelegenheit, jedem so ausführlich wie Heinze seine Beweggründe und Absichten zu erläutern.

Der versprach es, und fragte, ob er sich bei Rothenburg mit einer Gegenüberraschung revanchieren und ihn in die gerade gegründete Gundling-Gesellschaft einladen dürfe. “Unter dem Namen des verachteten, verlachten Akademiepräsidenten aus der Zeit Friedrich Wilhelms des 1. treffen wir, abgewickelte, verachtete Mitglieder der einstigen Akademie monatlich einmal zusammen, um neueste Forschungsergebnisse vorzustellen, Übersichten des Wissenstands zu geben, auch um die heutige Zeit und unsere Probleme mit ihr zu besprechen. Ich glaube, die meisten würden sich freuen, wenn du zu uns kämst.” Rothenburg willigte ein und schrieb sich die Adresse auf. Dann begleitete er den unvorhergesehenen Klienten hinaus. Nach dem Honorar fragte dieser erst gar nicht, offenbar hielt er seine Einladung für Lohn genug.

Dennoch empfanden die beiden Jüngstunternehmer diese Begegnung als größten Gewinn. “Daß ich sogar einen Mann wie Heinze von der Ernsthaftigkeit unseres Unternehmens überzeugen könnte, hätte ich nie gedacht” endete Edgar, nachdem er von der makaberen Begegnung berichtet hatte.

“Weißt du, was das bedeutet?” Gerdas Stimme klang triumphal: “Unserer Zukunft steht nichts mehr im Wege. Die Tes Chiros floriert. Für uns hat der Aufschwung Ost schon begonnen!”

Alte Kameraden

Edgar war erfolgsverwöhnt. Seine wissenschaftliche Leistung war einst anerkannt, seine Intelligenz geschätzt, sein Aussehen vor allem von Frauen bewundert worden. Dennoch hatte er sich noch nie so erfolgreich gefühlt, wie nach den ersten zwei Monaten neuen Seins.

Kein Gefühl ließ sich mit dem vergleichen, anderen richtungweisend, sogar lebensentscheidend geholfen zu haben. Sicher, auch seinen Historischen Materialismus hatte er für lebenswichtig und wegweisend gehalten und die Klasse, der seine wissenschaftsverwandten Prophetien gewidmet waren, hatte es ihm mit Ein- und Emporkommen gelohnt. Doch was war all das gegen den ausdrücklichen Dank einzelner Menschen?

“Ihnen verdanke ich meine neue Arbeit, einen neuen Lebenssinn, ja, vielleicht mein Leben” schrieb ihm Horst Pfeiffert, der melancholische Ingenieur. “Sie ahnen nicht, oder doch nur annähernd, wie mir zumute war, als ich zu Ihnen kam. Es ist keine Redensart: Ich war nah am Selbstmord. Ich bin unverheiratet, wie Sie wissen, ich habe keine anderen Interessen außer meiner Arbeit, wie Sie durch die Handlinienanalyse sehr richtig herausgefunden haben. Auch Ihre Prognose war vollkommen zutreffend. Schon im zweiten Geschäft, wo ich vorsprach, einem winzigem Telefon- und Computerladen in Reinickendorf, stellte mich der Chef sofort ein, nachdem ich meinen Werdegang angedeutet hatte. Er zahlte zwei Gehälter im Voraus und übertrug mir inzwischen die Service- und Beratungsaufgaben fast vollständig. Er kümmert sich nur noch ums Geschäftliche, ich bin mein eigener Herr – und überglücklich!

Ich weiß, daß man Glück nicht mit Geld bezahlen kann. Andererseits wäre ich Ihnen, im Fall privater Arbeitsvermittlung, natürlich eine Provision schuldig und hätte sie wahrlich gern bezahlt. Seien Sie darum nicht ärgerlich, wenn ich Ihnen per Postanweisung tausend Mark übersende: als Dank, als Spende, als Unterstützung eines wirklich wichtigen Unternehmens von Ostdeutschen für Ostdeutsche. Machen Sie weiter so!

Sehr dankbar, Ihr Horst Pfeiffert.”

Noch besser hatte es die amtsenthobene Schuldirektorin Roswitha Thalmer getroffen. Sie bewarb sich, ermutigt durch Edgars chiromantischen Zuspruch, auf eine Anzeige hin im Berliner Zentrum für Bibliotherapie. Der Leiter, Fürst von Haßlau fand, als wahrer Christ, ihre sozialistischen Ideale nicht zu fern von den seinen und war, als wirklicher Demokrat, überzeugt, zur Demokratie würde man nicht geboren sondern erzogen. So stellte er die junge, ihm sympathische Frau ein, ohne auf das ehrabschneiderische Zeugnis der Ehrenkomission sonderlich zu achten, welches sie ihm pflichttreu vorlegte. Das wiederum brachte ihr Weltbild ins Wanken. Einen überzeugten Christdemokraten hatte sie sich vollkommen anders vorgestellt. Zudem sah der über Fünfzigjährige gut aus und war seit zwei Jahren Witwer. Die beiden waren einander offenbar schnell nähergekommen.

So klang es jedenfalls im Dankesbrief, den sie an den “Direktor der Firma Tes Chiros schrieb. Begeistert berichtete sie darin von ihren neuen Möglichkeiten und ihrem neuen Chef, voller Bewunderung rühmte sie die Sehergabe Edgars, der die Arbeit im Sozialbereich und, noch erstaunlicher, die Beziehung zu einem wohlhabenden Mann in gesicherter Position so zutreffend prophezeit habe.

“Im Namen des Fürsten von Haßlau darf ich Ihnen versichern, daß er großes Interesse an der Fortexistenz Ihrer Firma und zukünftiger Zusammenarbeit hat. Seiner Ansicht nach – die ich zu teilen beginne – haben das Lesen von Texten und von Handlinien grundlegende Gemeinsamkeiten. Hier wie dort wird Zeichen Sinn zugeordnet, Lebens- und Zukunftssinn. Oft genug wird solche Zuordnung für Scharlatanerie mißbraucht. Umso schätzbarer erscheinen ihm Versuche, wissenschaftlich fundierte Diagnosen psychischer Zukunftspotentiale aufgrund neuester Erkenntnisse der Chiromantie zu gewinnen.

Unser Zentrum ist technisch bestens ausgerüstet; wir würden uns freuen, Sie unterstützen zu können. Auch unsere umfangreiche Bibliothek teils psychologischen, teils parapsychologischen und esoterischen Inhalts steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Herr von Haßlau erlaubt sich, eine bescheidene Summe zur Unterstützung Ihrer Bemühungen, aber auch als Dank für den Gewinn einer wertvollen Mitarbeiterin (so will er es übermittelt wissen!) an Ihre Adresse zu übersenden.

Hochachtungsvoll, Ihre Roswitha Thalmer.”

Zwei Tage nach diesem Brief ging eine Überweisung von zwanzigtausend Mark ein.

Gerda und Edgar glaubten zuerst, der edle Spender habe sich um eine Null vertan, bis sie im “Who is Who in Germany” unter dem Namen “Haßlau, Fürst von Friedrich August” nachschlugen. “Schloß Haßlau, Deutschland” war der Geburtsort, die Eltern hießen “Karl August Fürst von Haßlau und Prinzessin Maria Anna von Regensburg”. Der berufliche Werdegang verzeichnete die Leitung des Zentrums für Bibliotherapie nur nebenbei. “Inhaber der Fürst von Haßlau Bank, Vorsitzender und Mitglied im Aufsichtsrat zahlreicher Gesellschaften” lautete der Haupteintrag; er schloß mit der Aufzählung einiger Auszeichnungen:”Malteser Ritter Orden, Orden der Rautenkrone, Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik”. Die im Zehnzeilentext offenbarte blaublütige Gediegenheit nötigte selbst dem Historischen Materialisten einige Ehrfurcht ab. Die Höhe der Summe wurde erklärlich.

Dagegen erschienen alle anderen Einnahmen gering, doch sie summierten sich. Noch zwei Klienten hatten nach erfolgreicher Beratung Tausendmarkspenden gesandt. Aufgrund weiterer Inserate hatten sich im ersten Monat vierundachtzig, im zweiten einhundertundfünf Menschen gemeldet, der Spendendurchschnitt betrug, wie Gerda richtig geschätzt hatte, etwa hundert, folglich die Einnahmesumme etwa neunzehntausend Mark. Mehr als vierzigtausend Mark in acht Wochen – davon hätten sie anfangs nicht zu träumen gewagt.

Geld allein macht nicht glücklich, aber es stärkt das Selbstbewußtsein. Erfolgsfroh hatte er spontan beschlossen, Heinzes Einladung zu folgen und die turnusmäßige Tagung der Gundling-Gesellschaft zu besuchen.

Was er erlebte, war gespenstisch. Nur wenige hundert Meter entfernt vom noblen Haus der preußischen Seehandlung mit ihrem fein furnierten Sitzungssaal, in dem einst die Vollversammlungen der Akademie stattfanden und der nun von den neuen Herren und Damen der neugegründeten alldeutschen Akademie genutzt wurde, hatte die Gundling-Gesellschaft einen Versammlungsraum angemietet. Das wurde aus den kümmerlichen Monatsbeiträgen ihrer zumeist zwangspensionierten Mitglieder finanziert. Im Hochparterre eines Betonplattenbaus gelegen, hatte der große Saal früher als Versammlungs- und Festraum für Hausgemeinschaften gedient. Das braunblumige Linoleum, die Stahlrohrstühle, die Sprelacarttische und der Wandschmuck aus Bastflechtereien zeugten noch vom alten Zweck. Nur das wuchtige Rednerpult vorn verwies auf den neuen. An der Tür begegnete Edgar dem einstigen, kurz vorm Untergang durch Professorentitel geadelten Parteisekretär, der wie stets als erster gekommen war und die Eintretenden mit gerunzelten Brauen musterte. “Wir haben dich lange nicht gesehen, Genosse…äh, Edgar. Es ist gut, daß du den Weg zu uns gefunden hast.” Klang ein drohender Unterton in der freundlichen Begrüßung? Edgar begrüßte die Anwesenden, wechselte mit dem und jenem ein paar Worte. Alles bekannte Gesichter, international bekannte Wissenschaftler, alle ein bißchen grauer, ein bißchen älter. Es war, als sei die Zeit über sie hinweggerast und zugleich stehengeblieben.

Heinze kam später, er schüttelte ihm die Hand und lächelte mit Verschwörermine: ”Schön, daß du da bist. Etwas Wissenschaft kann nie schaden.”

Langsam füllte sich der Raum. Schließlich trat Ralf Knaufmann, ein weltbekannter Kardiologe, gewählter Vorsitzender der Gundling-Gesellschaft, ans Pult. Er begrüßte die Anwesenden, fand besonders freundliche Worte für Edgar Rothenburg und einen Physiker, die zum erstenmal teilnahmen: “Ob die wissenschaftlichen Inhalte oder die Wissenschaftler selbst abgewickelt wurden – das Ergebnis bleibt sich gleich, wie an ihnen beiden exemplarisch erkennbar. Seien sie in unserem Kreis besonders herzlich begrüßt!” Anhaltendes Klopfen vermittelte Edgar erstmals seit langem wieder ein heimisches Gefühl.

Doch das verflüchtigt sich bei den folgenden Vorträgen. Vier Redner waren angekündigt: Ein Philosoph, ein Historiker, eine Sprachwissenschaftlerin, ein Mathematiker. “Zukunftsgestaltung als Evolutionsprozeß” lautete das Tagesthema. Es interessierte den Marxisten und Handlinienleser Rothenburg brennend – aber das Vorgetragene ließ ihn kalt. Der Philosoph, ein alter Bekannter und Widersacher, schlug die Schlacht um antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche nocheinmal. Der Historiker erklärte, warum Wende und Wiedervereinigung gesetzmäßig gewesen waren; vor Wendezeiten hatte er allerdings, ebenso überzeugt, den gesetzmäßigen Zusammenbruch des Kapitalismus beschworen. Die Sprachwissenschaftlerin behandelte psycholinguistische Aspekte des gegenwärtigen Sprachwandels in Ostdeutschland; ihre Fremdwortkaskaden bewiesen internationales Niveau, doch hier, fern von verstehender Spezialistengemeinschaft, blieb sie ohne Resonanz. Der Mathematiker stellte ein synergetisches Modell ökosozialer Systemtransformation vor; bis zur Wende wurde sein Ansatz totgeschwiegen, danach totgeredet, jedoch der berühmte Mann, Freund des belgischen Nobelpreisträgers Prigogine, wegen Systemnähe entlassen. Seine hochtheoretischen Erklärungen des Geschehenen und Geschehenden verstanden allerdings die Wenigsten.

Die Diskussion war ein wunderliches Gemisch aus Betroffenheit und Abstraktion. Einige berichteten von ihrem Leben nach der Wende, von den Gefühlen Sinnlosigkeit und Leere. Andere gaben scharfsinnige theoretische Kommentare, ein intellektuelles Feuerwerk, das in allen Hauptstädten außerhalb Deutschlands mit Hochachtung bedacht worden wäre. Hier blieb es innerhalb der dumpfen Betonmauern.

Auch Edgar wagte einen kurzen Kommentar, versuchte, Gedanken seines letzten, unveröffentlichen Buches einzubringen. Offen sei die Zukunft, gestaltbar, aber ihre Gestalt nicht vorhersehbar; der Weg sei das Wahre, das Ziel nur vage: “Wie der Bergsteiger Kletterhaken in die Felswand schlägt, um sich beim Aufstieg zu sichern, auch wenn er nicht weiß, ob er den Gipfel erreichen wird, ja, ob der Aufstieg überhaupt zum Gipfel führt – so erfinden wir Menschen Werte, Sinn- und Zielvorstellungen, Religionen, Ideologien, die unser Tun sichern, ohne Erfolg verbürgen zu können. Im Gegenteil, erst der Erfolg des Tuns läßt uns, zeitweise wenigstens, Werte für wahr, Sinn für gegeben, Religionen und Ideologien für unfehlbar halten. Laßt uns nicht nur auf die ewigen, vielleicht unerreichbaren Berggipfel starren, laßt uns neue Haken einschlagen, neue Aufstiege erproben. So verstehe ich Zukunftsgestaltung – in neuer, lebenskräftiger Gestalt.”

Betretenes Schweigen folgte dem Aufruf. Die meisten Fachwissenschaftler verstanden ihn als Poesie, manche der ehemaligen Gesellschaftswissenschaftler als Häresie, niemand wollte etwas erwidern. Heinze versuchte einen Applaus, er erstarb nach wenigen Klatschern. Bald darauf beendete Knaufmann die Diskussion, dankte allen für ihr reges Engagement, besonders den beiden neuen Teilnehmern. Er würde sich freuen, sie bald als Mitglieder der Gundling-Gesellschaft begrüßen zu können.

Bevor Edgar den Ausgang erreichte, hatte ihn der Philosoph schon abgefangen: ”Das war nicht sehr materialistisch, Kollege Rothenburg. Hört sich so an, als habe der Überbau gar nichts mehr mit der Basis zu tun, als bestimme Bewußtsein das Sein. Hast wohl dem Historischen Materialismus abgeschworen?”

“Ich habe nie auf den Historischen Materialismus geschworen”, entgegnete Edgar scharf. “Ich hielt und halte vieles für zutreffend. Doch Leute wie du haben mich Vorsicht gelehrt. Wenn das Materialismus ist, was du verzapfst, bin ich lieber Idealist. Grüß Gott.”

Der Rechtgläubige erstarrte, unfähig, irgendetwas zu erwidern. Edgar ließ ihn stehen, ging zur Tür. Dort griff ihn sein Exparteisekretär: “Das war reiner Sozialdemokratismus, mein Lieber: ´Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts´. Kennt man doch. Bist dir ganz schön untreu geworden, Edgar, und unseren erhabenen Idealen.”

“Du bist dir treu geblieben …”

Grußlos wandte Edgar sich ab, floh den Ort heilsamer Erkenntnis. Stufen überspringend polterte er den U-Bahneingang hinunter, überholte alle, sie blickten ihm erschrocken hinterher. Erst in der Bahn, auf die dunklen Tunnelwände und vorbeifliegenden Lichter starrend, vermochte er, seine Gedanken zu fassen. “Niemals, nie, nie” hämmerte es im Hirn. Nie zu diesem Club der Gestrigen gehören. Nie auf diese Weise alt werden. Nie der Zeit hinterherhinken und glauben, er sei ihr voraus. Lieber Teller waschen, Zeitungen verkaufen oder – eben: Handlinienlesen.

 

 

Wir bedanken uns beim Autor und beim Eulenspiegel Verlag Berlin für die freundliche Genehmigung, die obigen beiden Kapitel aus dem 1996 erschienenen Buch „Aufschwung“ von John Erpenbeck – leicht gekürzt – übernehmen zu dürfen.

 

 

aus ICH Sommer 97